In seiner Winckelmann-Skizze berührt Goethe den Kern von Kunst: das Verständnis vom Menschen. Dabei nimmt er wie sein Lehrer – frohgemut und selbstbewusst «heidnisch» – bei der griechischen Antike Mass. Doch sehr weit entfernt vom christlichen Topos der Menschwerdung Gottes sind sie beide damit nicht.
In Goethes Schriften zur Kunst findet sich neben anderen Perlen auch die kleine Porträtstudie zum Alterstumsforscher Johann Joachim Winckelmann, 1805 erschienen als Einleitung zum biographischen Teil des von Goethe herausgegebenen Sammelbandes «Winckelmann und sein Jahrhundert». Was diesen kurzen Text (in der Hamburger Ausgabe 33 Seiten lang) so kostbar macht, ist Goethes souveräner Umgang mit dem 32 Jahre älteren Winckelmann (1717–1768), den er in Rom kennenlernte und der ihn zu einem tiefen Verständnis der Antike führte. Auf der einen Seite erweist der Verfasser dem Porträtierten seine ausdrückliche Verehrung, auf der anderen hält er nicht hinter dem Berg mit Hinweisen etwa auf Winckelmanns instabile Selbstgewissheit, die ihn vom Beifall anderer über die Massen abhängig machte. In der leichthändigen Balance von Begeisterung, Kritik, Wahrhaftigkeit, Takt und Fairness beweist Goethe sein überragendes Format.
Bei allen Verschiedenheiten von Lebensumständen, Bildungswegen, Charakteren und Temperamenten lässt das Porträt doch erkennen, dass Goethe sich bei vielem in Winckelmann wiedererkennt. Namentlich in dem, was er das «Heidnische» seines Protagonisten nennt, umschreibt Goethe auch die eigene Haltung. Wie der im Essay Dargestellte ist auch er zum Christentum auf Distanz gegangen. Viel näher steht ihnen beiden das, was sie in der Humanität der griechischen Antike sehen: «Jenes Vertrauen auf sich selbst, jenes Wirken in der Gegenwart (…) die auf diese Welt angewiesene Zukunft», sieht Goethe als Orientierungspunkte der antiken Kultur. Und die ist in seinen Augen menschengemässer als das Christentum. Darin sieht Goethe nebenbei auch die Rechtfertigung für Winckelmanns opportunistischen Übertritt zum Katholizismus, mit dem dieser sich die Anstellung als vatikanischer Bibliothekar in Rom – eine Traumstelle für ihn als Kunsthistoriker – erkauft hat. Das Christentum ist für Winckelmann (wie für Goethe) in welcher konfessionellen Ausprägung auch immer schlicht unerheblich. Dass man sich mit der Macht der Kirchen pragmatisch arrangieren muss, steht auf einem anderen Blatt.
Goethes Bild des Menschen ist das eines sich selbst bildenden, zu einer Ganzheit strebenden Wesens. Das ist von jener kirchlichen Vorstellung eines der Gnade bedürftigen Sünders um Welten entfernt. Ob die griechische Antike historisch zum Modell der Winckelmannschen und Goetheschen Ideen tauge, ist nach heutigem Wissensstand unwahrscheinlich. Doch im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert ist das idealisierte Bild der Antike kulturprägend. Im Winckelmann-Essay schwingt Goethe sich zur hymnischen Feier dieses von ihm als «heidnisch» bezeichneten Welt- und Menschenbildes auf:
«Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem grossen, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines, freies Entzücken gewährt – dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern.»
Goethe ist in der Bibel bewandert genug um zu wissen, dass sich er hier der Sprache der Psalmen annähert. Und da er als genauer Leser sehr wohl weiss, dass die Bibel kein Monolith ist, sondern aus Texten mit unterschiedlichen Menschenbildern und Weltverständnissen besteht, vermag er zu unterscheiden. Wovon er sich in selbstbewusstem «Heidentum» distanziert, das ist der Traditionsstrom, der von Paulus und Augustin zu Luther und der zeitgenössischen protestantischen Orthodoxie reicht. Hier herrscht die Auffassung vom Menschen als grundlegend bedürftigem Wesen, das seiner Natur gemäss in der Unwahrheit lebt und nur durch unverdiente göttliche Gnade dazu befreit werden kann, zu seiner eigentlichen Bestimmung zu finden – für Goethe eine obskure Doktrin. Anderen biblischen Gehalten wie der Schöpfungstheologie oder den Weisheitslehren steht er jedoch durchaus nahe. Hier erkennt er seine Idealvorstellungen einer bewohnbaren Welt, einer gesunden Natur und eines zur Ganzheit strebenden Menschen wieder.
Winckelmanns Begeisterung für die griechische Antike prägt die Kunstauffasssung des Klassizismus, die vor allem in Skulptur und Malerei der weit entfernten Epoche ihre ästhetischen Ideale verwirklicht sieht. Als Inbegriff der Vollkommenheit gilt die Götterstatue des Phidias im Zeus-Tempel zu Olympia. Wer sie nicht gesehen hatte, galt den Griechen als unglücklicher Mensch. Goethe erkennt – in Übereinstimmung mit seinem Lehrer Winckelmann – in dieser legendären Skulptur die Essenz von wahrer Kunst. Die Bedeutung dieses Werks als Inbegriff des Schönen beschreibt er mit überschwänglichen Worten: Es bringe die höchste Wirkung hervor, indem es den Menschen über sich selbst erhebe. Die Eloge auf die (nicht erhaltene, sondern nur aus Beschreibungen bekannte) Zeus-Statue des Phidias kulminiert schliesslich in einem kühnen Satz: «Der Gott war zum Menschen geworden, um den Menschen zum Gott zu erheben.»
Das kommt selbst nur spurenweise christlich sozialisierten Leserinnen und Lesern zweifellos bekannt vor. Die christliche Welt feiert ja die Geburt Jesu als die Menschwerdung Gottes. Und auch der zweite Teil von Goethes Spitzensatz findet eine Entsprechung im Christentum: Der Glaube als «Nachfolge Christi» bedeutet, in der Sprache des Neuen Testaments ausgedrückt, «in Christus» zu leben. Diese demütige Art der Teilhabe am Göttlichen ist zwar für Goethe entschieden zu klein gedacht (er plakatiert lieber die Erhebung des Menschen zum Gott), aber die Sinnverwandtschaft beider Lesarten ist kaum zu übersehen.
Der Vergleich mit der christlichen Vorstellung der Menschwerdung Gottes soll nicht vergessen machen, dass es bei Winckelmann und Goethe nicht um Religion, sondern um Kunst geht. Wer deren Wirkungen nicht nur fühlen, sondern auch verstehen will, ist auf Bewertungsmassstäbe angewiesen, und die müssen auf die Grenze des Möglichen, das heisst, auf das Vollkommene ausgerichtet sein. Winckelmann hat in der griechischen Antike dieses Top-Niveau erkannt, und Goethe fasst dasselbe in Worte, die dem Religiösen entlehnt sind. Die sprachliche Anleihe ist nicht zufällig. Ästhetik rührt letztlich immer an Vorstellungen einer Ganzheit, die sich nicht auf Einzelnes beschränken lässt. Das Kunstwerk, welches eine Vorstellung des Schönen evoziert (und sei es – wie in heutiger Kunst so oft – in der Negation, im Defizitären, in der Anklage), weist mit der Idee des Schönen über sich selbst hinaus auf eine versöhnte Welt.
Bild: Johann Heinrich Wilhelm Tischbein: Goethe in der Campagna, 1787 (Ausschnitt)
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