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Der wütende Flugblattverteiler

Das Volk ist der Souverän, aber es ist kein souveräner Souverän. Zu viele verstehen die Abstimmungsvorlagen nicht, zu oft werden Sachaspekte von Emotionen überlagert. Und trotzdem ist die direkte Demokratie ein gutes System. Es produziert nicht überlegene Entscheidungen, aber es beteiligt die Menschen. Und bringt sie im besten Fall ins Gespräch.

Auf dem Markt, wo wir gern Früchte und Gemüse einkaufen, werden häufig Unterschriften gesammelt oder Flugblätter verteilt. Die hier solche Aktionen machen, arbeiten offensichtlich nicht für eine der jüngst ins Gerede gekommenen Firmen für politische Dienstleistungen. Sie sind Freiwillige, die ihre Zeit für die eigene politische Überzeugung einsetzen. Deshalb lasse ich mich oft ansprechen oder gehe auch mal auf Aktivisten zu. Viele Unterschriftenbogen habe ich hier schon ausgefüllt. Manchmal, wenn ich mit einem Anliegen nicht einverstanden bin, ergibt sich eine kurze Diskussion – Demokratie im öffentlichen Raum.

Nicht alle, die auf dem Marktplatz für politische Positionen werben, sind in ihren Themen sattelfest. Nach meiner Beobachtung verhalten sich Vehemenz und sachliche Stimmigkeit der Argumentation oft umgekehrt proportional zueinander. Der etwas ältere Mann, der sich diese Woche gegen die Pensionskassen-Reform ins Zeug legte, über die in der Schweiz in zwei Wochen abgestimmt wird, war mit dem nicht ganz trivialen Thema offensichtlich nicht so ganz vertraut. Entweder waren die Instruktionen, die er bekommen hatte, falsch, oder er hatte ein paar Zahlen und Fakten durcheinandergebracht. Man habe ihm sechs Prozent seines Lohns als Rente versprochen, und nun wolle der Bundesrat ihm die nicht geben, ereiferte er sich. Auf unsere Erwiderung, die sechs Prozent hätten sich nicht auf seinen Lohn (was in der Tat übel wäre), sondern auf sein in der Pensionskasse für ihn angespartes Kapital bezogen, reagierte er aufs Höchste erregt. Er wisse das ganz genau, und er wisse auch, dass er von den Banken beklaut werde, die nämlich von den Pensionskassengeldern Milliarden abzockten. Jeder Versuch unsererseits, das Durcheinander zu entwirren, machte ihn nur noch wütender. Die Marktbesucher machten einen Bogen um ihn, und wir sahen zu, dass wir weiterkamen.

Die kleine Episode ist typisch für einen ziemlich normalen Stil politischer Auseinandersetzungen. Das politische Geschäft, wie es in parlamentarischen oder halbdirekten Demokratien betrieben wird, beruht auf den Prinzipien von Interessendurchsetzung und Interessenausgleich. Selbst im Falle von Mehrheiten, die in der Lage sind, ihre Vorstellungen bei der Gesetzgebung durchzusetzen, ist politisches Handeln am Ende auf Akzeptanz angewiesen. Fehlt diese, so werden Widerstände provoziert, beispielsweise in Form von Demonstrationen oder Streiks. Gewisse Elemente von Ausgleich braucht es also selbst bei klaren Mehrheitsverhältnissen. Erst recht wichtig ist der Ausgleich zwischen unterschiedlichen Positionen bei ungeklärten Mehrheitsverhältnissen. 

Aus politischen Prozeduren kommen deshalb in der Regel Problemlösungen und Gesetze heraus, die nicht aus einem Guss sind. Das Ergebnis sind vielmehr Konglomerate aus verschiedenen Gesichtspunkten und Anliegen. Sie haben für jede Interessengruppe sowohl Vor- wie Nachteile, sie fügen sich üblicherweise nur unvollkommen in bestehende Ordnungen ein, und sie sind meistens komplex und ziemlich erklärungsbedürftig.

Die Pensionskassen-Vorlage ist so ein Ausgleichsprodukt. Es versucht viele ganz unterschiedliche Ziele zu erreichen: langfristige finanzielle Stabilisierung der Kassen, Behebung der politisch ungewollten Mitteltransfers von Jung zu Alt, Behebung des Ausschlusses von Geringverdienerinnen und Personen mit mehreren Teilzeitjobs. Die vielen Änderungen des BVG (Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge), die das Parlament zur Erreichung dieses Strausses von Zielen beschlossen hat, bringen – typisch für solche Vorlagen – neben vielen Verbesserungen auch ein paar Nachteile. Je nach politischer Präferenz, Interessenlage oder persönlicher Betroffenheit kann man das Reformpaket deshalb unterschiedlich beurteilen.

Gegen die Reform wurde von gewerkschaftlich-linker Seite das Referendum ergriffen, sodass jetzt darüber abgestimmt werden kann. Abstimmungskämpfe haben eine andere Logik als die gesetzgeberische Technik des Interessensausgleichs. Hier geht es um Ja oder Nein, Weiss oder Schwarz. Grisaillemalerei ist nicht gefragt. Und sowohl das Ja wie das Nein muss im politischen Diskurs mit vollem Einsatz propagiert werden. Jedes Eingeständnis der Pro-Seite, die Vorlage habe auch Nachteile, jede Andeutung der Kontra-Position, es sei nicht alles falsch an der Reform – undenkbar! Relativierung ist Schwächung im Abstimmungskampf.

Allerdings setzt die agonale Phase des politischen Entscheidungsprozesses nicht erst bei der Volksabstimmung ein. Parteien und Interessenverbände haben auf sämtlichen Stufen des Politgeschäfts die Öffentlichkeit im Auge und bearbeiten diese propagandistisch. Das plebiszitäre Element spielt überall in die politische Arbeit hinein: bei Auswahl und Setzung der Themen, bei formellen politischen Vorstössen, in der parlamentarischen Detailarbeit. Selbst dort, wo «im Inneren» der Abläufe differenziert gearbeitet und geurteilt wird, ist die «nach aussen» gerichtete Kommunikation meist zugespitzt auf scharfe Antagonismen.

Der Flugblattverteiler auf dem Marktplatz ist anscheinend vorwiegend oder sogar einzig mit dieser strategischen Kommunikation in Berührung gekommen, die stets im Modus des politischen Kampfes operiert. Möglich, dass er Politik nur kennt als Konfrontation zwischen Freund und Feind. Erregung und Wut teilen sich leichter mit als Differenzierung und Abwägung. 

Manchmal ist es schwierig, sich der antagonistischen Logik der Parolen und Schlagwörter zu entziehen. Die Wut des Flugblattverteilers ist mir nicht fremd. Auch wenn ich nicht auf offenen Plätzen herumzuschreien pflege: Es gab in der Vergangenheit immer mal wieder Abstimmungen, die mich in einer Weise aufgewühlt haben, dass der Erregungslevel einer ruhigen Diskussion nicht zuträglich war. Ich rede von früheren Zeiten; jetzt mit siebenundsiebzig Jahren bin ich deutlich cooler (und vielleicht auch gescheiter). Aber immer noch nicht so gescheit, wie ich als Stimmbürger theoretisch sein müsste. Von dem guten Dutzend Abstimmungsfragen, zu denen ich für den 22. September eine Entscheidung getroffen habe, bin ich bei weniger als der Hälfte einigermassen sicher, ein voll informiertes Ja oder Nein in die Urne zu legen. Den Mangel an eigenen Entscheidungsgrundlagen kompensiere ich mit der gründlichen Lektüre der Abstimmungsunterlagen, mit Konsultation von Parteiparolen, aus Informationen der Presse, durch Gespräche und, ja, auch mit ein bisschen Bauchgefühl.

Das Volk ist der Souverän. Und die Mitglieder dieses Volks sind bei Abstimmungen fallweise und individuell immer mal etwas überfordert. Der Souverän ist in seinen Entscheidungen somit sachlich nur bedingt souverän. Gern geäusserte Behauptungen wie «Das Volk hat immer Recht» oder «Volksentscheide erweisen sich stets als massvoll und letztlich richtig» sind daher Schönrednerei. Dass Abstimmungsresultate Geltung und Respektierung beanspruchen können, ist etwas anderes. Der Souverän hat das letzte Wort, aber er kann sich irren. Und dieses letzte Wort kann vom Souverän korrigiert werden. Was ja ab und zu vorkommt.

Das scheint doch ein ziemlich gutes System zu sein. Nicht, weil es in der Sache überlegen wäre, sondern weil es mir und dem wütenden Flugblattverteiler die Möglichkeit der Beteiligung gibt. Und weil es ihn und mich ins Gespräch bringt – ein Disput zwar ohne sachlichen Ertrag, aber mit ein paar Erkenntnissen für mich. Ob auch dem Flugblattverteiler irgendwas aufgegangen ist nach der kurzen Rencontre auf dem Marktplatz, weiss ich nicht. Wenn er wieder mal dort in Aktion ist, gibt’s vielleicht nochmals ein kurzes Gespräch, und ich versuche dann rüberzubringen, dass ich seinen Einsatz zu schätzen weiss. Auch wenn ich seine politische Meinung vielleicht wieder nicht teile.

 

Bild oben: Abstimmung an der Landsgemeinde am 7. Mai 2006 in Glarus; Foto: Adrian Sulc, Wikimedia

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