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Das konventionell Schöne

Wenn Künstler an überholten Konventionen der Malerei festhalten, gibt dies zu Fragen Anlass. Es drohen blosse handwerkliche Fertigkeit oder gar der Kitsch. Häufig hat man es mit Grenzfällen zu tun. So ausgerechnet bei einem Bild, das ich liebe. Es stammt aus dem späten 19. Jahrhundert und hängt im Kunstmuseum Ahrenshoop. Unstreitig ist es ein Produkt malerischer Routine, aber da ist dann doch noch mehr.

Zugegeben: Es ist kein sehr bedeutendes Bild. «Schifferfriedhof in den Dünen von Ahrenshoop» von Paul Müller-Kaempff (1861–1941) ist das Produkt eines künstlerischen Handwerkers. Es kalkuliert mit dem Sentiment des Betrachters, und bei strengem Urteil gäbe es vermutlich sogar Gründe, es als Kitsch einzustufen.

 

Und doch liebe ich dieses Bild. Viele Male schon bin ich zu ihm gepilgert. Müller-Kaempffs «Schifferfriedhof» sprengt nicht von der Machart, aber von seinem Format her das Genre der sentimentalen Landschaftsbilder, wie man sie sich damals – es ist 1893 entstanden – ins Wohnzimmer hängte. Ganze 211 mal 350 Centimeter misst das Ölbild. Seit der 2013 erfolgten Eröffnung des Kunstmuseums Ahrenshoop hängt es als Dauerleihgabe der Kieler Kunsthalle in der Sammlung von Werken der Ahrenshooper Künstlerkolonie. Es nimmt eine ganze Wand in dem vom Berliner Büro Staab Architekten erbauten Museum ein und beansprucht so einen Platz als Schlüsselbild dieser Sammlung. Mit der Verlegung von Kiel nach Ahrenshoop ist das Riesengemälde gewissermassen nach Hause gekommen, obschon Müller-Kaempff es nicht in hier, sondern in seinem Berliner Atelier gemalt hatte.

Das Motiv des etwas verwilderten Friedhofs mischt dem Landschaftsidyll die Ingredienzien des Besinnlichen, des in Frieden Ruhens, des Ewigen bei. Es sind Ahrenshooper Schiffer und ihre Familien, die hier liegen. Etliche von ihnen sind im Meer geblieben, das eben nicht nur Sommerfrische bedeutet, sondern auch gefahrvolle Seefahrt in Herbst- und Winterstürmen. Müller-Kaempff deutet diese Realität mit seiner Motivwahl zumindest an, wenn er sie auch im Licht des Idyllischen zugleich verharmlost.

 

Mir aber sind Motivik und Erzählung hier gar nicht so wichtig. Was mich jedes Mal von Neuem für das Bild einnimmt, ist das Atmosphärische. Ich stehe als Betrachter gewissermassen auf diesem mager bewachsenen Sandgrund. Ich spüre und höre den Wind, der in die trockenen Grasbüschel greift und die kleinen gelben Blüten zaust. Und ich rieche das nahe Meer. Das diffuse Licht vermag keine Schatten zu werfen, alles liegt unter einem weichen Schleier. Die Sonne ist im perlgrauen Himmel knapp wahrnehmbar. Vielleicht wird sie nach einer Weile den Dunst auflösen, doch wahrscheinlicher ist, dass es bei dem diesigen Wetter bleibt.

 

Im Evozieren dieses physischen Erlebens von Feuchte in der Luft, von unterschiedsloser Helle und von kräftigem Wind legt Müller-Kaempff mehr als blosse Routine an den Tag. Da beherrscht er die künstlerischen Mittel und stellt sie in den Dienst einer Bildidee. Und diese erschöpft sich nicht in der Melancholie eines einsamen Friedhofsbesuchs, sondern erzählt von einer Dünenlandschaft als der den Elementen preisgegebenen Zone zwischen Meer und festem Land. Hier ist noch nicht entschieden, ob die Vegetation Bestand haben oder ob das Meer sie wieder abtragen wird. Der Friedhof wird zur Metapher der Vergänglichkeit. Sie ist das Signum der ganzen Szenerie.

 

Aus kunstkritischer Sicht, wie gesagt, kein herausragendes Gemälde. Es entstammt einer «akademischen» Bildproduktion, deren feste Regeln für das Kunstschöne zwar damals schon in Zweifel gezogen wurden (in der Zeit Müller-Kaempffs verstand ein Cézanne das Bild nicht mehr als Abbild eines Äusseren, sondern als autonomen, prismatisch strukturierten Bildraum). Müller-Kaempff war von solchen Umwälzungen nicht berührt. Er blieb bei seiner handwerklichen und gesellschaftlich anerkannten Kunst und malte, was die Leute sehen und kaufen wollten. Und er malte gut und hatte mit seiner Kunst Erfolg.

 

Im Fall des «Schifferfriedhofs» und mehrerer weiterer Bilder Müller-Kaempffs, die in Ahrenshoop zu sehen sind, überzeugt diese konventionelle, gegenüber den damals zeitgenössischen Entwicklungen «verspätete» Kunst noch immer. Deren Hervorbringungen können, da sie sich nicht im Gefälligen erschöpfen, auch in der sich seit hundertfünfzig Jahren stets von Neuem revolutionierenden Kunstwelt schön sein.

 

Foto: Urs Meier

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