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Notorische Begeisterungsstürme

Nicht jeder Konzertabend ist ein musikalisches Grossereignis. Das ist völlig in Ordnung. Das Herausragende kann nicht als Selbstverständlichkeit erwartet werden. Doch genau diese Erwartung besteht offenbar bei vielen Konzertbesuchern, und sie scheinen gewillt zu sein, sich deren Erfüllung unbedingt selber zu bestätigen.

Das Tonhalle-Orchester spielt vor vollem Haus. Kein Wunder, denn das Programm ist zugkräftig: ein Beethoven-Klavierkonzert, einer Bruckner-Sinfonie. Hinzu kommt als moderner Aufgalopp ein kurzes Stück von Pärt, der ja auch kein Bürgerschreck ist. Wohlverstanden, ein solches Programm macht Sinn. Ihm billige Popularität vorzuwerfen, wäre ziemlich snobistisch. Klassik muss nicht elitär sein. Und ausserdem ist keines der drei Werke dieses Abends auch nur im Entferntesten irgendwie simpel. 

 

Ausführende und äussere Umstände berechtigen jedenfalls zu hohen Erwartungen: ein hervorragendes Orchester, ein renommierter Dirigent, ein zur Legende gewordener Solist und einer der weltbesten Konzertsäle. Paavo Järvi, der estnische Maestro, ist seit 2019 Chef des Tonhalle-Orchesters Zürich. Ausgestattet mit einem eindrucksvollen Leistungsausweis, leitet er einen Klangkörper, der mit dem früheren Wirken des Amerikaners David Zinman in der Periode 1995 bis 2014 in die Weltklasse aufgestiegen ist und der nach der nicht rundum glücklichen Ära des (allzu) jungen Franzosen Lionel Bringuier nun danach hungert, an das mit Zinman erreichte Niveau wieder anzuschliessen.

 

Arvo Pärt, ein Este wie Järvi, hat «Cantus in Memory of Benjamin Britten» 1977 komponiert als Hommage an den im Vorjahr verstorbenen englischen Komponisten, den er wegen des Eisernen Vorhangs nicht persönlich hatte treffen können. Es ist ein Kanon für zehnstimmiges Streichorchester und Glocke, dessen Stimmen sich fortwährend gegeneinander verschieben und eine sich sukzessive steigernde Klangfülle hervorbringen. Es ist ein typischer Pärt, repetitiv, sich in winzigen Schritten entwickelnd. Doch das erste Werk des Abends bleibt trotz üppigem Wohlklang flach, es fehlen die Schattierungen, der magische Sog des Meditativen bleibt aus.

 

Jetzt aber Beethoven! Das herrliche Klavierkonzert Nr. 4 mit Rudolf Buchbinder am Flügel müsste doch ein Highlight werden. Doch was geschieht da! Nach der pianistischen Eröffnung des ersten Satzes wird die orchestrale Exposition zum Super-GAU: Järvi peitscht das Orchester zu Eruptionen an der akustischen Schmerzgrenze. Damit setzt er den wuchtigen, martialischen Ton dieser Aufführung. Buchbinder flicht zwar hie und da eine filigrane Figur ein, schliesst sich aber im Übrigen der Diktion des Manns am Pult an und donnert seinen Part routiniert in den Steinway. Nicht viel anders verfährt er bei der vom Publikum erklatschten Zugabe, dem dritten Satz der Sonate Nr. 17 «Der Sturm».

 

Als enttäuschter Beethoven-Liebhaber hoffe ich auf Entschädigung mit Bruckner, der zu meinen Favoriten zählt. Auf dem Programm steht die Sinfonie Nr. 6, ein Spitzenwerk der Spätromantik. Doch auch hier die gleiche Kraftmeierei. Der fromme Anton Bruckner, der künstlerisch ein Suchender war, der sich in seinen gewaltigen Orchesterwerken merklich vorantastete, der mit seinen sich auftürmenden Klanggebirgen zu Momenten der Erleuchtung strebte – dieser Bruckner wird hier zum musikalischen Haudrauf, bei dem es knallt und kracht.

 

Ein verlorener Abend ist es im Rückblick nicht, da es trotz allem einzelne schöne Momente gab – und weil auch Interpretationen, denen man nicht zustimmen kann, immer höchst anregend sein können. Für mich als häufigen Konzertbesucher ist es kein Problem, wenn nicht jede Aufführung zum denkwürdigen Ereignis wird. Es gibt ja das Herausragende nur im Vergleich zum Mittelmässigen und Misslungenen, und dieser Vergleich interessiert mich je länger, je mehr.

 

Was mich bei Konzerten, die keine Höhepunkte der Musik sind, aber gelegentlich nervt, das sind die frenetischen Beifallsstürme, mit denen alles beklatscht wird, was lediglich virtuos dargeboten oder was nur schon als hochklassig angekündigt ist. Ohne mindestens viermaliges Herausklatschen, ohne Trampeln und Bravorufe, ohne Standing Ovations scheint ein Konzertbesuch für manche Leute unvollständig zu sein. Sie wollen sich selber offenkundig bescheinigen, soeben einem grossartigen, einmaligen Ereignis beigewohnt zu haben. Sie wollen nachher erzählen können, das Publikum sei völlig ausgeflippt. Das wollen die Hochleistungsklatscher mit nach Hause nehmen. Sie haben ja schliesslich bezahlt.

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