Putin behauptet, das Christentum zu verteidigen. In Wirklichkeit hat er sein Land in die Sackgasse einer Kultur der Gewalt geführt. Um zu sehen, wie schwierig eine Umkehr für Russland sein wird, muss man verstehen, wie tief der herrschende Ungeist verwurzelt ist.
Der Literaturwissenschafter und Genderforscher Toni Tholen hat in «Die Zeit» den «Fascho-Patriarchen» Putin als Exponenten eines tief verwurzelten mythischen Machismo charakterisiert. Seine keineswegs simple Analyse ist tatsächlich erhellend. Putin verkörpert eine genuin von Gewalt geprägte Kultur, in der es selbstverständlich ist, Gewalt zu erleiden und diese an andere in womöglich potenzierter Form weiterzugeben. In diesem Klima gedeiht eine Vorstellung von Männlichkeit, die einzig den agonalen Kampf als Existenzform kennt und daher auch banale, unheroische Erfahrungen und Daseinsformen stets auf diese Folie projiziert. Narrative des «Wir gegen die andern» sind in dieser Macho-Kultur unverzichtbar. Autokraten vom Schlage eines Putin sind sich ihrer Macht am sichersten, wenn sie die Konfrontation mit einem realen oder konstruierten Feind als beherrschende Erzählung installieren können. Es ist gewiss kein Zufall, dass Putin den Ukrainekrieg, den er seit spätestens 2014 systematisch vorbereitet hatte, ausgerechnet in einer Zeit sinkender Popularität zum Zaun gebrochen hat. Seine Beliebtheitswerte sind ja dann tatsächlich stark angestiegen.
In seinem Zeit-Essay beleuchtet Toni Tholen einen Mechanismus patriarchaler Herrschaft, der für das Verständnis von Putins Neofaschismus hilfreich ist: Söhne machistischer Väter erleben sich als «Subjekte» im Sinne des Unterworfenen (subjectus), als ein Nichts vis-à-vis des übermächtigen Erzeugers. Erst wenn sie ihrerseits andere unterwerfen, erschaffen sie sich selbst als Subjekte im geläufigen Sinn, nämlich als souverän handelnde Personen – «souverän» im Sinn von Carl Schmitts Definition, wonach souverän ist, wer über den Ausnahmezustand, d.h. das aussergesetzliche Handeln, entscheidet. Es ist, darauf weist Tholen ausdrücklich hin, eine eigentliche creatio ex nihilo, die da im Innersten des Macho-Faschismus am Wirken ist: eine Erschaffung des mächtigen Individuums aus dem Nichts. Dieser Prozess ist in den Augen der sich so ins soziale Sein hebenden Individuen umso grossartiger, da er ja keine vorgegebene Grundlage und keinen äusseren Anlass hat. Es ist die reine Selbstkreation.
Die sozial entscheidende Folge dieser subjektiven Genese des autoritären Ichs besteht nach Tholen darin, dass ein solches Ich sich mit anderen Subjekten nicht anders verbinden kann als in einem vollständig homogenen Wir. Ein Du oder ein Ihr, das anders sein könnte, kommt nur als Feind in Frage. Es ist offensichtlich, dass der so beschriebene Mechanismus nicht nur die feindselige Abschliessung von Putins Russland nach aussen, sondern auch dessen inneren Uniformitätszwang gut erklärt.
Der philosophisch-theologische Topos der creatio ex nihilo, der in dieser Genese des autoritären Individuums eine überraschende Rolle spielt, lässt sich interessanterweise nicht auf biblische Überlieferungen zurückführen. Die Schöpfungsmythen der Bibel sprechen allesamt nicht von einer Erschaffung der Welt aus dem Nichts, sondern von einer Gestaltung des Ungestalteten: des hebräischen Tohuwabohu («wüst und leer») oder des griechischen Chaos (etwa: «gähnende Leere»). Erst unter dem Einfluss des Neuplatonismus ab dem 2. Jahrhundert setzt sich in der christlichen Theologie die Vorstellung von Gottes Erschaffung der Welt aus dem Nichts durch. Triebkraft dieser geistesgeschichtlichen Innovation ist die Vermeidung der Vorstellung, es könnte vor der Schöpfung ausser Gott noch etwas anderes existiert haben. Dieser Gedanke war den antiken Theologen deshalb unerträglich, weil er Gottes exklusiver Position Konkurrenz macht. Nicht nur die Allmacht Gottes, sondern der monotheistische Gottesgedanke überhaupt, der ja solche Exklusivität voraussetzt, würde ins Wanken geraten, wenn neben ihm so etwas wie eine Urmaterie an der Schöpfung Anteil gehabt hätte.
Allmacht Gottes und creatio ex nihilo sind allerdings in der Theologie nicht unumstritten geblieben. Erstere ist im Theodizee-Problem an ihre unüberwindliche Grenze gestossen, letztere scheitert in der religiös-narrativen Praxis daran, dass das Nichts zwangläufig auch nichts Vorstellbares ist. Seit Augustin, der den dogmatischen Lehrsatz in der Theologie verankerte, ist es nie gelungen, das Credo von der Schöpfung aus dem Nichts von den Höhen der spekulativen Theorie auf den Boden gelebter Religion zu bringen. Was erzählt, dargestellt und in der Folge auch geglaubt werden konnte, war vielmehr der Mythos des die Welt und am Ende den Menschen erschaffenden Gottes, der als überweltlicher Baumeister, Handwerker und Künstler mit irgendwie vorhandenem Material arbeitete. Diese grosse Erzählung stiftete Sinn und Orientierung in der Welt und bezog den fragenden Menschen in ein grosses kosmisches Geschehen ein.
Michelangelos ikonische «Erschaffung des Adam» stellte den Menschen in unmittelbaren Bezug zum Seinsgrund der Welt, hier kühn als mythische Gottvaterfigur dargestellt. Es ist der selbstbewusste und beziehungsfähige Renaissance-Mensch, der sich da im Deckenfresko der Sixtina zeigt und keineswegs ein vor seinem Macho-Vater kuschendes Nichts. Dieser Adam ist keiner, der nur dann ein souveränes Subjekt werden kann, wenn er alles niedermacht, was er als Nicht-Ich und Nicht-Wir wahrnimmt.
Putin erhebt den Anspruch, seine christliche Kultur gegen den degenerierten und materialistischen Westen zu verteidigen. Daran ist nicht nur das «verteidigen» eine fadenscheinige Propagandalüge. Auch seine Beanspruchung des Christentums darf man nicht durchgehen lassen. Und dies nicht nur, weil sein Handeln als brutaler Kriegsherr sich mit dem Prädikat «christlich» nicht verträgt, sondern weil seine macho-faschistische Haltung im Innersten von ganz anderen als christlichen Triebkräften bestimmt ist. Putins geistige Welt beruht auf der Abschliessung gegen das Andere, sie ist genuin beziehungsunfähig und gewalttätig.
Irgendwann wird dieses Land, das ja auch eine grosse Kulturtradition und entsprechende (jetzt unterdrückte) humane Ressourcen hat, eine sehr tiefgreifende Wende in Angriff nehmen müssen. Man wagt sich kaum auszudenken, was für Energien und wieviel Zeit dafür nötig sein werden. Als creatio ex nihilo wird die Befreiung vom russischen Neofaschismus nicht vonstatten gehen. Deutschland hat seine Neuorientierung nach der NS-Zeit mit viel Hilfe und Druck von aussen nach längerer Zeit geschafft. Ist ein ähnlicher Prozess in Russland irgendwann denkbar?
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