Ende April meldete sich Jürgen Habermas zu Wort, zwei Monate später antwortete ihm Timothy Snyder. Die beiden Positionen legen orientierende Koordinaten in den Debattenraum zum Ukrainekrieg. Ausserdem geben sie ein Niveau für die Diskussion vor. Ein Beispiel, wie sehr dieses auch von klangvollen Namen oft unterschritten wird, ist der jüngste Appell in der deutschen Öffentlichkeit.
Der Ukrainekrieg spaltet nicht nur die Putinversteher von denjenigen, die ohne Wenn und Aber Russland als Aggressor schuldigsprechen. Auch das Lager der Letzteren hat sich entzweit. Es sind mehrere Streitpunkte, die für Uneinigkeit sorgen:
(1) Soll man der Ukraine nahelegen, sich der Übermacht zu ergeben, um weitere Opfer zu vermeiden? – Richard David Precht hat sich so geäussert und dies als eine moralisch gebotene Entscheidung bezeichnet. (Er ist auch beim im Folgenden erwähnten Appell wieder dabei.
(2) Soll man die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine einschränken oder ganz stoppen? – Die solches fordern, hegen die Befürchtung, eine wirkungsvolle Aufrüstung der Ukraine könnte den Russen Anlass geben, militärisch gegen Nato-Staaten vorzugehen und/oder auf dem ukrainischen Gefechtsfeld taktische Atomwaffen einzusetzen. Das Schreckensszenario geht bis zum nuklear geführten Weltkrieg.
(3) Soll unter allen Umständen sofort eine Verhandlungslösung des Konflikts angestrebt werden, allenfalls mit westlichem Druck auf die Ukraine? – Diese Position beruft sich darauf, dass Kriege ohnehin immer mit Verhandlungen beendet würden, es also besser sei, dies früher zu tun als später. Ausserdem sei ein Sieg gegen eine atomar bewaffnete Grossmacht ohnehin unmöglich. Etwas anderes als Verhandlungen komme daher sowieso nicht in Frage.
Die konträren Meinungen zu diesen Streitpunkten werden überlagert von vielfacher Kritik an der Debatte selbst: Manche fühlen sich ausgegrenzt oder diffamiert oder verzerrt dargestellt – oder alles zusammen. Und auch wenn dieses Durcheinanderlaufen verschiedener Ebenen und Perspektiven die Diskussion zuweilen mühsam macht, muss sie halt geführt werden, und zwar unter Einbezug aller begründbaren Positionen. Ich bin der Meinung, dies geschehe durchaus. Die Debatte ist vielstimmig und offen – in denkbar grösstem Kontrast zu dem, was zurzeit in Russland vor sich geht.
Jürgen Habermas an der Seite von Olaf Scholz
Nach zwei Monaten Krieg hat sich der mittlerweile 93jährige Jürgen Habermas in der «Süddeutschen Zeitung» zu Wort gemeldet («Krieg und Empörung», SZ 28.4.2022). Seine Stellungnahme geht zur breiten Empörung auf Distanz. Dies nicht, weil er sie für unbegründet hielte, sondern weil er der Emotion die Fähigkeit zur rationalen Beurteilung der Lage abspricht. Habermas begrüsst die Absicht der Nato-EU-Allianz, eine aktive Beteiligung am Krieg auszuschliessen. Zugleich meint er aber, der Westen habe «schon mit der Verhängung der drastischen Sanktionen von Anbeginn keinen Zweifel an seiner faktischen Kriegsbeteiligung gelassen».
Bemerkenswert an Habermas’ Intervention ist seine Kritik an einem Putin-Bild, das diesen als ideologisch getriebenen Visionär charakterisiert: «Das heute vorherrschende Bild vom entschlossen revisionistischen Putin bedarf wenigstens des Abgleichs mit einer rationalen Einschätzung seiner Interessen. Auch wenn Putin die Auflösung der Sowjetunion für einen grossen Fehler hält, kann das Bild des verstiegenen Visionärs, der mit dem Segen der russisch-orthodoxen Kirche und unter dem Einfluss des autoritären Ideologen Alexander Dugin die schrittweise Wiederherstellung des grossrussischen Reiches als seine politische Lebensaufgabe betrachtet, kaum die ganze Wahrheit über seinen Charakter widerspiegeln.»
Diesen «Abgleich» nimmt Habermas gleich selber vor mit dem Hinweis auf die Biographie «eines im KGB geschulten rational kalkulierenden Machtmenschen», der durch die Westwendung der Ukraine und der belarussischen Protestbewegung sowie durch kritisch-liberale Strömungen im eigenen Land heftig herausgefordert sei. Russische Aggressivität sei «als die frustrierte Antwort auf die Weigerung des Westens zu verstehen, über Putins geopolitische Agenda zu verhandeln – vor allem über die internationale Anerkennung seiner völkerrechtswidrigen Eroberungen und die Neutralisierung eines „Vorfeldes“, das die Ukraine einschliessen sollte».
Habermas’ Einschätzung der geopolitischen Agenda Putins ist ein Schwachpunkt. Er suggeriert, eine Abtretung des Donbass und der Krim an Russland und eine Neutralisierung der Ukraine hätten Putin zufriedengestellt. Nun gab es aber einen sehr ähnlichen Vorschlag, den Selenskyj den Russen in einer frühen Phase des Kriegs als Verhandlungsangebot übermittelte. Dieses ukrainische Verhandlungsangebot blieb jedoch ohne Antwort – ein Umstand, der für Habermas diesen Punkt eigentlich aus dem Spiel nehmen müsste.
Vor allem aber reichen die geopolitischen Pläne Putins viel weiter. Was Habermas als «kaum die ganze Wahrheit» über Putins Charakter, sondern als «wilde Spekulationen, die unsere Leitmedien heute wie zu den besten Zeiten der spekulativen Sowjetologie ausbreiten» lächerlich macht, ist leider Putins mehrfach dokumentierte und von ihm zur Staatsräson erhobene Absicht. Spätestens seit seinem zweiten Präsidium verfolgt er sie planvoll und unbeirrt: die «russki Mir»-Doktrin, gemäss der ein Grossrussland im Umfang der einstigen Sowjetunion geschaffen werden muss.
Im Ganzen unterstützt Habermas mit seinem Debattenbeitrag die vorsichtig-bedächtige Politik von Bundeskanzler Scholz, der alles vermeiden will, was Putin militärisch provozieren könnte und der seine Solidaritätsbekundungen mit der Ukraine stets verknüpft mit dem Grundsatz, die Nato dürfe keinesfalls Kriegspartei werden (was aber schwierig sei, da man ja nicht wisse, wo der Kremlherr die entsprechenden Roten Linien ziehe). So stimmt denn Habermas explizit der Scholz’schen Formel zu, die Ukraine dürfe den Krieg nicht verlieren. Beide, der Kanzler und der Philosoph, scheuen sich zu sagen, die Ukraine müsse den Krieg gewinnen, respektive Russland müsse ihn verlieren.
Timothy Snyder liest Habermas die Leviten
Zwei Monate nach dem Erscheinen von Habermas’ Artikel hat Timothy Snyder, Osteuropa-Historiker an der Yale University, in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» auf diesen geantwortet («Deutsche Verantwortung», FAZ 27.6.2022). Die Replik ist heftig ausgefallen.
Snyder wirft Habermas vor, zwar historisch zu argumentieren, aber den Zweiten Weltkrieg völlig auszublenden. Und ohne diesen Bezug sei die Position der Ukraine im jetzigen Krieg nicht zu verstehen. Entscheidend sei dabei, dass Hitlers Feldzüge nach Osten als das gesehen würden, was sie waren: Kolonialkriege: «Hitler zeichnete die Ukrainer als ein Kolonialvolk und versuchte, sie zu vertreiben, auszuhungern und zu versklaven. Er wollte die ukrainische Nahrungsmittelproduktion nutzen, um Deutschland zu einem autarken Weltreich zu machen.»
Heute greife Putin faktisch Hitlers Sichtweise auf, um seinen Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine zu rechtfertigen. Er führe Krieg im Namen einer mythischen Vergangenheit. Demgegenüber richteten die Verteidiger die Blicke nach vorn: «Die Generation, die in der Ukraine die Macht in Händen hält, ist die erste, die ihre Prägung nach 1991 erhielt, und ihr Mut liegt in der Verteidigung des seither Aufgebauten und der Vision einer normalen europäischen Zukunft. Die Männer und Frauen, die in diesem Krieg kämpfen, verbinden das nationale Überleben mit einem normalen Leben und einer Zukunft in der Europäischen Union.»
Die Befürchtung, es könnte zu einer nuklearen Eskalation kommen, hält Snyder für die Wirkung einer von der russischen Propagandamaschinerie im Westen gezielt geschürten Panik. Er geht so weit, Habermas vorzuwerfen, er lasse sich de facto von solcher Propaganda instrumentalisieren. Nach Snyders Ansicht ist es falsch, die Russen vor einer Demütigung bewahren zu wollen: «Wir wissen, dass auch eine demütigende Niederlage nicht zu einem Atomkrieg führen wird. Russland wurde in der Schlacht um Kiew bereits besiegt und sogar gedemütigt, setzte jedoch keine Atomwaffen ein und eskalierte nicht. Russische Truppen können nicht in die Ecke gedrängt werden, sie haben die Möglichkeit, sich nach Russland zurückzuziehen. Putin kann nicht in die Ecke gedrängt werden, er regiert auf der Grundlage einer von Medien erzeugten virtuellen Realität, und diese Medien werden von ihm kontrolliert.»
Auch die von Habermas anempfohlenen Lehren aus dem Kalten Krieg hält Snyder allesamt für falsch: «Habermas stützt seine Argumente auf die geschichtliche These, der Kalte Krieg hätte bewiesen, dass keine Atommacht einen Krieg verlieren könne. Das stimmt nicht. Sowohl die Sowjetunion als auch die USA verloren während des Kalten Kriegs grössere Kriege. Amerika wurde von Nordvietnam geschlagen, die UdSSR von Afghanistan.» Und genauso abwegig sei auch die Bezeichnung des Kalten Kriegs als eine Zeit des Friedens. Habermas blende mit dieser Aussage die Vielzahl von Kolonialkriegen aus, die damals tobten.
Für Snyder ist Kolonialismus ein Schlüsselbegriff zum Verständnis der Weltpolitik im 20. und 21. Jahrhundert, und er hält es für eine Kalamität der westlichen und insbesondere der deutschen Diskussion, dass sie diesen Begriff zumeist umgeht: «Wie die europäische Integration es den Deutschen erlaubte, den kolonialen Aspekt ihres Krieges zu vergessen, so erlaubt sie den Westeuropäern, ihre Kolonialkriege der 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahre zu vergessen.»
Dieser blinde Fleck ist laut Snyder auch der Grund dafür, dass der Charakter des Ukrainekriegs als Kolonialkrieg nicht nur von Habermas, sondern weitgehend in der deutschen (und westlichen) Diskussion nicht gesehen wird. Deshalb sehe Habermas auch die spezifische deutsche Verantwortung – die der ehemaligen Kolonialkriegsmacht – gegenüber der Ukraine nicht. Deutschland habe seine neue Ostpolitik, die letztlich darin bestanden habe, einer Oligarchie Öl und Gas abzukaufen, viel zu wenig reflektiert. «Der Beschluss, die Kernenergie aufzugeben, war unverständlich, die Entscheidung, nach der russischen Invasion in der Ukraine 2014 Nord Stream 2 zu bauen, skandalös. Diese Entscheidungen hatten verheerende Folgen.»
Jedes Land mit einer Kolonialgeschichte müsse auf die Stimmen derer hören, die Opfer von Kolonialismus wurden oder werden. «Als ehemalige Kolonialmacht in der Ukraine und als Wirtschaftspartner der gegenwärtigen Kolonialmacht in der Ukraine waren die Deutschen verpflichtet, den Ukrainern zuzuhören – eigentlich schon vor dem Krieg, aber spätestens nach dem Kriegsausbruch. Doch das geschah nicht.»
Für Snyder ist es klar: Russland muss diesen neuen Kolonialkrieg verlieren. Denn nur wenn sie besiegt wird, kann man die Ambitionen einer kolonialistischen Macht stoppen. Für Snyder ist die Folgerung unabweisbar: Der Westen – und wegen seiner geschichtlichen Verantwortung besonders Deutschland – muss die Ukraine rechtzeitig mit Waffen und jeder sonstigen Hilfe in die Lage versetzen, gegen den Aggressor zu obsiegen.
Und hinterher ein laues Lüftchen
Öffentliche Appelle – mal eher auf Habermas-Linie, mal eher mit Snyder im Gleichschritt – hat es zum Ukrainekrieg mehrere gegeben. In der Wochenzeitung «Die Zeit» vom 30. Juni hat sich eine Gruppe von 21 Persönlichkeiten erneut mit einem Appell zu Wort gemeldet. Unter dem Titel «Waffenstillstand jetzt!» fordern sie «Verhandlungen so schnell wie möglich».
Der Aufruf hat etwa die Distinktionskraft eines Posters mit der Aufschrift «No War!» Die Unterzeichner von Jakob Augstein bis Juli Zeh fordern die «Entwicklung einer Strategie zur möglichst raschen Beendigung des Krieges». Da ein Sieg der Ukraine «unrealistisch» sei. Der Westen müsse sich deshalb entscheiden, welches Ziel er mit seiner Unterstützung verfolge. Die Kriegsfolgen seien längst nicht mehr auf die Ukraine beschränkt. Es drohe eine Destabilisierung der globalen Lage. Und dann wird auch noch festgestellt: «Doch ein Fortdauern des Kriegs in der Ukraine ist nicht die Lösung des Problems.»
Die Lösung könne nur in Friedensverhandlungen liegen. «Je länger der Krieg andauert, desto mehr internationaler Druck ist erforderlich, um zur Verhandlungsbereitschaft beider Seiten zurückzufinden.» – Hier hat sich der gutgemeinte Appell in die Sphäre diplomatischer Höflichkeiten verirrt, in der die eherne Regel herrscht, dass man keiner Partei zu nahetritt und zumindest so tut, als würde man allen zu jeder Zeit so etwas wie guten Willen zutrauen – und zwar beiden Seiten gleich viel!
Der Appell nimmt nicht zur Kenntnis, dass es vor und nach Ausbruch des Kriegs diplomatische Bemühungen, Gespräche und sogar Verhandlungen gab. Sie führten zu nichts, weil Putin nicht interessiert ist, zu verhandeln. An internationalem Druck auf den Aggressor fehlt es dank des Sanktionsregimes auch nicht. Die Behauptung des Appells, es sei bislang «kein konzertierter Vorstoss der internationalen Gemeinschaft, insbesondere der grossen westlichen Akteure, erfolgt», ist schlicht falsch.
Der Appell ist mit seiner angemassten mittigen Schiedsrichterposition ein Zeugnis jener Art von Geschichtsvergessenheit, die Timothy Snyder anprangert. Die 21 besorgten Deutschen klammern aus, dass ihr Land Putin stark gemacht hat und seinen Krieg finanziert. Zudem verschliessen sie die Augen vor der Tatsache, dass hier kein halbwegs symmetrischer Konflikt vorliegt, für den man eine Kompromisslösung verhandeln könnte. Nein, in der Ukraine ist ein Vernichtungskrieg im Gang. Wenn man die Tragödie stoppen kann, dann nur mit kluger und entschiedener Unterstützung des Angegriffenen und mit wirkungsvoller Ächtung des Angreifers.
Der Appell der 21 Persönlichkeiten (mit zum Teil sehr klangvollen Namen) ist ein Tiefpunkt der Debatte.
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