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Verpönte Grenzen

Das Frontex-Referendum wurde massiv verworfen. Deshalb beteiligt sich nun die Schweiz an der Verstärkung des Schengen-Grenzschutzes. Auf der unterlegenen Seite neigt man dazu, den Schutz von Grenzen als grundsätzlich inhuman anzuprangern.

Die 71,5 Prozent jener 39,5 Prozent der Stimmberechtigten, die am 15. Mai an der an der Abstimmung teilnahmen, dürften ihr Ja aus unterschiedlichen Gründe eingelegt haben. Die Befürchtung, mit einem Nein den Ausschluss der Schweiz aus dem Schengen-Raum zu riskieren, hat zweifellos eine wesentliche Rolle gespielt. Dem Realitätstest, ob das bloss geschickte Angstmacherei der Befürworter eines Frontex-Ausbaus oder eine reale Gefahr war, muss sich die Schweiz jetzt glücklicherweise nicht stellen.

 

Das stärkste Argument der Frontex-Kritiker war vor dem Urnengang schon halb verpufft. Es waren sich nämlich beide Seiten einig, dass es bei der Grenzschutzbehörde zu Gesetzesverstössen und Menschenrechtsverletzungen gekommen war. Frontex hat nachweislich an verbotenen Push-backs von Flüchtlingen durch nationale Grenzschützer mitgewirkt oder diese zumindest nicht verhindert. Der Skandal ist unbestritten; er hat denn auch zum Rücktritt des Frontex-Chefs Fabrice Leggeri geführt. Der Bundesrat hat sich im Vorfeld der Abstimmung verpflichtet, bei einem Ja zum Frontex-Ausbau das interne Aufräumen energisch zu unterstützen. Der Dissens der Pro- und Kontra-Seite in diesem Punkt bestand im Wesentlichen darin, ob den Besserungsgelöbnissen von EU und Bundesrat sowie von Frontex selbst zu trauen sei oder nicht. Da aber zukünftig eine strenge Überwachung durch Zivilgesellschaft und Medien sicher ist, werden die Verantwortlichen es sich nicht leisten können, den Schlendrian weiterlaufen zu lassen.

 

Schwachpunkt der Frontex-Gegner war ein Thema, das im Abstimmungskampf meist übergangen wurde: Vor allem die engagiertesten Aktivisten kämpfen nicht einfach gegen Missstände beim Grenzschutz, sondern sind prinzipiell gegen Frontex. Sie bestreiten Notwendigkeit und Legitimität einer robusten Sicherung der Schengen-Aussengrenzen. Für sie ist Migration ein bedingungsloses Menschenrecht. Eine Prüfung von Fluchtgründen sehen sie als illegitime Schikane und eine gesetzliche Beschränkung der Migration als Verstoss gegen den jedem Menschen zukommenden Anspruch, dort leben zu können, wo er will.

 

Obschon die Gegnerschaft (u.a. SP und Grüne) sich unter dem eindeutigen Label «No Frontex» versammelte, versuchte sie die radikalen Postulate aus abstimmungstaktischen Gründen eher im Hintergrund zu halten. Doch diese standen jederzeit Schwarz auf Orange zu lesen und bestimmten auch die Tonalität des Abstimmungskampfs, denn da hiess es klipp und klar: «Frontex tötet!»

 

Die Fundamentalopposition gegen einschränkendes Asyl- und Migrationsrecht speist sich aus der Utopie einer Welt mit unbeschränkt durchlässigen Staatsgrenzen, die ihre Probleme in umfassender Solidarität unter Verzicht auf Zwang und Gewalt löst. Parolen wie «No Frontex» schliessen solch utopische Konzepte kurz mit der Realität einer von Konflikten beherrschten Staatenwelt. Es ist dies eine Absage an Politik, denn das Politische besteht in der Gestaltung der realen Welt mit den real verfügbaren Mitteln. 

 

In der von krassen Ungleichheiten geprägten Welt können Staatsgrenzen nur bedingt, nämlich für die Bevorzugten, offen sein. Bedingungslose Grenzöffnung würde die beliebtesten Zielländer der Migrationsströme wirtschaftlich, sozial und kulturell überfordern. Die historische Konstanz von Wanderbewegungen ist kein Grund, den heutigen Migrationsdruck als «normal» und «verkraftbar» einzustufen, denn die Einwanderung zielt in Europa wie noch nie in der Geschichte auf dicht besiedelte, sozial fragile Länder mit geringer Resilienz. Der Aufstieg der AfD in Deutschland nach dem Flucht-Sommer 2015 war ein Vorgeschmack auf die im Falle ungehinderter Zuwanderung zu erwartenden sozialen und politischen Verwerfungen.

 

Mit Schengen haben wir einen europaweiten Raum, in welchem für die privilegiert darin Lebenden eine fast weltweite Bewegungsfreiheit möglich ist. Dieses Vorrecht kontrastiert heftig mit dem abweisenden Charakter der Schengen-Grenze für Nichtprivilegierte. Indem diese Abschottung zu massenhaftem Sterben im Mittelmeer und anderen Unmenschlichkeiten führt, setzt sie die Grenze und die von ihr Profitierenden moralisch ins Unrecht. Dieser Kontrast zwischen eigenem Wohlstand und fremder Armut ist schwer erträglich, und vor allem ist er nicht leicht zu beheben. Was dagegen getan werden müsste, geht weit über die gewohnte Politik hinaus: Fluchtgründe beheben, global gerechte Verhältnisse schaffen, Menschenrechte weltweit durchsetzen – es ist im Grunde zum Verzweifeln.

 

Angesichts des moralischen Dilemmas der mit undurchlässigen Grenzen festgeschriebenen Ungleichheit ist der Sprung in die Utopie verständlich. Er bringt diejenigen, die ihn wagen, auf die andere Seite: ins Lager der Solidarischen. Von dort rufen sie ihre Anklagen hinüber zu den anderen, die nicht gesprungen sind, sondern sich auf dem widrigen Terrain der Realitäten mit Politik abmühen: «Dieses Ja baut Mauern! Dieses Ja ist rassistisch!» So der Kommentar auf der No-Frontex-Website nach der Abstimmung vom 15. Mai. Die sich so äussern, wollen drüben auf ihrer moralisch reinen Seite bleiben und sich nicht schmutzig machen an den unüberwindlichen Schwierigkeiten des Politischen.

 

Foto: NRW-Innenministerium/ Jochen Tack

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