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Wort-Askese: «Gesellschaft»

Es ist ein Container-Wort ohne klaren Inhalt. Das rächt sich, sobald man mit dem Begriff «Gesellschaft» ein Handeln begründen oder planen will.

Ausgerechnet Soziologen sind es, die dem Begriff der Gesellschaft mit so viel Skepsis begegnen, dass er für sie bloss als leere Chiffre zu gebrauchen ist. Dem steht der populäre Sprachgebrauch gegenüber, der ständig und anscheinend problemlos von der Gesellschaft als etwas Bestimmtem spricht. Es ist eine Redeweise, die vielleicht noch eine Ahnung hat, dass mit «Gesellschaft» in Wahrheit nichts Klares bezeichnet ist. Der Begriff eignet sich wunderbar, um die Unklarheiten des eigenen Denkens zu kaschieren mit einem Imponierwort, das allen vertraut ist und von dem niemand genau weiss, was es meint.

 

Niklas Luhmann hat als Soziologe eine Art Metatheorie der Gesellschaft entwickelt. Sie treibt dem Begriff der Gesellschaft jegliche Anschaulichkeit und Selbstverständlichkeit aus. Luhmann bezog sich auf die ursprünglich aus Biologie, Mathematik und Kybernetik stammende Systemtheorie, um das Konzept «Gesellschaft» ganz neu zu denken, nämlich als ein Nebeneinander selbsttätiger und eigengesetzlicher «Systeme», die füreinander gegenseitig «Umwelt» sind. Solche Systeme sind etwa Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Politik, Kultur, Erziehung. Die Strukturen, Beziehungen und Dynamiken innerhalb und zwischen diesen Systemen sind in ihrer Totalität nicht zu fassen. Es ergibt sich kein «Bild» der Gesellschaft, diese entschwindet in einer hochabstrakten Theorie.

 

Seit in der Moderne – im Wesentlichen nach der französischen Revolution – das wissenschaftliche Nachdenken über «Gesellschaft» begonnen hat, ist immer wieder die «Unerreichbarkeit» dieser Grösse aufgefallen. Trotz des Alltagsgebrauchs des Begriffs entzieht sich dieser jedem Versuch einer präzisen Beschreibung. Es war Pierre Bourdieu, der diese Erfahrung kühn in Parallele gesetzt hat zu dem, was in der Philosophie «Theodizee» heisst.

 

Das neuzeitliche Theodizee-Problem ist untrennbar mit einer Katastrophe verbunden. Als am 1. November 1755 weite Teile Lissabons von einem Erdbeben und Tsunami verwüstet wurden, waren Europas aufgeklärte Gelehrte geschockt. Das Ereignis zog ihnen, die sich gerade erst in einem optimistischen Weltbild eingerichtet hatten, den Boden unter den Füssen weg. Nun standen sie alle vor dem unlösbaren Problem der Gerechtigkeit Gottes, Theodizee genannt. Die Welt war für sie nicht denkbar ohne einen Gott, und Gott wiederum war nicht denkbar ohne die Eigenschaften der Allmacht, der Güte und der Gerechtigkeit. Eine intellektuell befriedigende Lösung des Theodizee-Problems gab es «nach Lissabon» nicht. Es blieb nur ein habitueller Umgang mit ihm, eine Selbstbescheidung nach dem Muster: Die Frage ist für uns Menschen zu gross, also entscheiden wir uns notgedrungen für ein Vertrauen ohne Wissen. 

 

Analog dazu hat der Gedankenspieler Bourdieu den Begriff der «Soziodizee» vorgeschlagen. Um mit der Unerreichbarkeit und Undurchschaubarkeit von «Gesellschaft» zurande zu kommen, machen sich die Leute einen Reim auf das Geschehen, in das sie selbst verstrickt sind. So können sie darauf verzichten, gesellschaftliche Verhältnisse à fond zu verstehen und einzuordnen – und trotzdem über die Gesellschaft reden. Jede schlüssige Aussage über Gesellschaft erweist sich so gesehen als eine Soziodizee.

 

Für den Alltagsverstand ist systemtheoretisches Denken eine arge Zumutung. Es schlägt diesem die praktischen Vereinfachungen und Denk-Abkürzungen aus der Hand. Genau damit aber leistet es eine der schwierigsten Aufklärungen, nämlich die über den höchst komplexen, kaum in alltagstaugliche Begriffe umzumünzenden gesellschaftlichen Hintergrund aller Zustände, aller Beziehungen, allen Handelns.

 

Der Münchener Soziologe und Luhmann-Schüler Armin Nassehi hat unter dem Titel «Unbehagen» eine kluge Analyse gegenwärtigen Gesellschaftsdenkens veröffentlicht. Sein Buch hat den präzisierenden Untertitel «Theorie der überforderten Gesellschaft». Überforderung und das damit verbundene Unbehagen resultieren aus eben dem Umstand, dass es beim Reden über gesellschaftliche Befunde und Probleme einen unausweichlichen Hang zur Soziodizee gibt, zu diesem geglätteten Bild von der Gesamtheit der Menschenwelt. Deshalb operieren die von gesellschaftlichen Problemen Betroffenen zumeist mit unterkomplexem Denken – und scheitern zwangsläufig.

 

Der gängige gedankenlose Gebrauch des Begriffs «Gesellschaft» mag harmlos sein in Smalltalk und medialem Geklapper. So bald es aber um das Verstehen und Beeinflussen grossmassstäblicher Zustände geht, greift ein ungeklärtes Denken in Kategorien von «Gesellschaft» unvermeidlich zu kurz – was regelmässig zu Fehleinschätzungen und Misserfolgen führt. Nassehi führt an mehreren Beispielen vor, dass es stattdessen gilt, sich an empirische Fakten und konkrete Erfahrungen zu halten. Auf deren Grundlage ist auf klar definierte Einzelziele hinzuarbeiten. Intendierte wie unintendierte Wirkungen müssen genau beobachtet und Prozesse laufend nachgesteuert werden. 

 

Nassehi belegt die Erfolge eines solchen – gern als technokratisch kritisierten – Denkens und Vorgehens. Es unterscheidet sich fundamental von hochfliegenden politischen Konzepten, die stets von «der Gesellschaft» reden, diese zu kennen und zu durchschauen meinen und glauben, «die Gesellschaft» könne nach idealen Vorgaben gestaltet und modelliert werden. Die von Nassehi bevorzugte Denkweise ist im Vergleich zu den vermeintlich umfassenden Gesellschaftstheorien bescheidener, näher bei der Empirie und überprüfbarer in ihren Effekten.

 

Wer das Wort «Gesellschaft» braucht, sollte sich bewusst machen, dass es nichts Klares bezeichnet. Mit «Gesellschaft» lässt sich daher nicht argumentieren. Als Container-Wort wie «die Leute», «das Zeug», «die Aktualität» und ähnliche kann es aber durchaus von begrenztem Nutzen sein.

 

Armin Nassehi: Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft, C. H. Beck, München 2021, 384 S.

 

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