· 

Kontaminiertes Denken

Rassistische Äusserungen finden sich bei Kant und Hegel – und nun auch bei Hannah Arendt. Mit diesem Fall hat sich die Schriftstellerin Priya Basil befasst, und das in einer Weise, die zum Überprüfen des eigenen geistigen Koordinatensystems anregt.

 

Priya Basil, eine britisch-indische, in Deutschland lebende Autorin (*1977) hat soeben einen bewegenden Essay veröffentlicht: «Gegen mich andenken. War die deutsche Philosophin Hannah Arendt rassistisch?» (WOZ-Beilage «Wobei» vom 6.5.2021, übersetzt von Beatrice Fassbender, im Web kostenpflichtig). Der Fall ist exemplarisch und die Art, wie Basil damit umgeht, ist eindrucksvoll. Doch bevor wir zu Priya Basil und Hannah Arendt kommen, gehen wir einen kleinen Umweg durchs 18. und frühe 19. Jahrhundert.

 

Es ist inzwischen hinlänglich bekannt: Bei vielen der grossen Aufklärer finden sich Äusserungen, die klar rassistisch sind. Immanuel Kant (1724–1804) hat sich in seinen Vorlesungen zur «Physischen Geographie» abschätzig über nichtweisse Rassen geäussert. So steht es jedenfalls in einer 1802 erschienenen Nachschrift einer mehrere Jahrzehnte zuvor gehaltenen Vorlesung. Kann man da hinsichtlich der Authentizität noch gewisse Vorbehalte haben, so gibt es bei einer weiteren Quelle keinerlei Zweifel: In seiner Schrift von 1764 «Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen» spricht er eben diese ästhetische Sensibilität «den Negers» rundheraus ab. Da gibt es nichts zu deuteln: Kant war in seinen frühen Jahren, als er, ein noch wenig bekannter Professor im entlegenen Königsberg, sich nebst Philosophie mit dem weitennoch kaum gefestigten Gebiet der Naturwissenschaften befasste, zweifelsfrei ein Rassist. Dass er damit einem allgemeinen Vorurteil folgte, entlastet ihn nicht, denn er wurde schon zu Lebzeiten für solche Äusserungen scharf kritisiert, und zwar vom Naturforscher, Ethnologen und Entdeckungsreisenden Georg Forster. 

 

Nicht besser steht heute der Schotte David Hume (1711–1776) da, der Kant nicht nur beeinflusst, sondern zum Widerspruch gereizt und so zur Erschaffung des wohl bedeutendsten philosophischen Werks der Neuzeit angeregt hat, den drei Vernunftkritiken. Eduard Kaeser hat im Journal 21 die rassistischen Verirrungen Humes, Kants, Montesquieus und Voltaires dargestellt («Die Aufklärer und ihre Neger»). Anzufügen wäre mindestens noch der Fall des philosophischen Grosskalibers Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), der das Folgende zum Besten gab: «Der Neger stellt, wie schon gesagt worden ist, den natürlichen Menschen in seiner ganzen Wildheit und Unbändigkeit dar: (...) Es ist nichts an das Menschliche Anklingende in diesem Charakter zu finden.»

 

Dass die Geistesheroen des 18.  und 19. Jahrhunderts dem Rassismus nicht widerstanden haben, ist schon schlimm genug. Doch nun ist zum Erschrecken vieler auch eine Lichtgestalt unter den modernen Denkerinnen und Denkern ins rassistische Zwielicht geraten: Hannah Arendt (1906–1975), Theoretikerin der Universalität von Menschenrechten und Freiheit und als Jüdin auch Opfer von Antisemitismus. – Und damit sind wir wieder bei Priya Basil. 

 

Bekannt ist der Kasus von Arendts Äusserungen zu den «Little Rock Nine». Neun schwarze Schülerinnen und Schüler hatten 1957 demonstrativ das Recht auf segregationsfreien Zugang zur Central High School in Little Rock/Arkansas eingefordert und waren zu Symbolfiguren der Bürgerrechtsbewegung geworden. Hannah Arendt kritisierte deren Heroisierung, was unter schwarzen Intellektuellen Entsetzen auslöste. Dass ihr Rassismus vorgeworfen wurde, war nicht ganz richtig und nicht ganz falsch. Immerhin liess ihr Aufsatz über Little Rock keinen Zweifel, dass sie Rassensegregation und Diskriminierung verurteilte. Doch ihre Kritik an der angeblichen Politisierung von so etwas «Privatem» wie dem Schulbesuch von Kindern offenbarte ein seltsames Unverständnis darüber, wie Rassismus funktioniert und welch politische Bedeutung der Schulbildung zukommt. 

 

Solche Ambivalenzen fehlen in einem früheren Text, dem berüchtigten Kapitel «Die Gespensterwelt des Schwarzen Erdteils» in ihrem 1951 erschienenen Hauptwerk «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft». Hier stehen so schwer verdauliche Sätze wie dieser: «Was sie (s.c. die Schwarzen) von anderen Völkern unterschied, war nicht die Hautfarbe; was sie auch physisch erschreckend und abstossend machte, war die katastrophale Unterlegenheit oder Zugehörigkeit zur Natur, der sie keine menschliche Welt entgegensetzen konnten.» Das tönt noch ganz ähnlich wie beim alten Hegel. Relativierende Gegengewichte sucht man vergeblich. Entsprechend klar muss das Verdikt ausfallen.

 

Priya Basil, eine grosse Arendt-Verehrerin, ist angesichts der nicht nur für sie unverständlichen Tiefpunkte in der epochalen Totalitarismus-Studie erschüttert. Ihr geistiges Koordinatensystem gerät durcheinander. Doch anstatt – wie andere es mit Kant, Hume, Hegel und anderen kontaminierten Geistesgrössen tun – nun auch Arendt definitiv als Rassistin zu entsorgen und als weiteres Beispiel für weissen Überlegenheitswahn zu rubrizieren, schaut Priya Basil genauer hin. In Arendts Briefwechsel mit James Baldwin über dessen Essay «Brief aus einer Landschaft meines Geistes» (am 9.11.1962 erschienen im «New Yorker») entdeckt sie Arendts Erschütterung nach der Baldwin-Lektüre. «Seit ich ihn gelesen habe, kann ich kaum an etwas anderes denken,» schreibt sie dem zuständigen Redaktor. Und an Baldwin: «(…) da diese Frage (s.c. die «Schwarzenfrage») uns alle betrifft, fühle ich mich berechtigt, Einwände zu erheben.»

 

Baldwin hatte in seinem Essay einen für Arendt heiklen Punkt getroffen: «Weisse waren und sind überrascht vom Holocaust in Deutschland. Sie haben nicht gewusst, dass sie zu so was imstande sind. Aber ich bezweifle stark, dass Schwarze überrascht waren (…).» Hannah Arendt vollendete zu jener Zeit gerade ihren Bericht über den Eichmann-Prozess in Jerusalem, an dem sie als Beobachterin teilgenommen hatte. Dieser Hintergrund wirkte stark auf ihre Wahrnehmung des amerikanischen Rassismus ein. Sie war irritiert von Baldwins Schluss, die einzige Chance zur Überwindung des Rassismus liege in der Einsicht, dass «Befreiung der Weissen» und «Befreiung der Schwarzen» sich gegenseitig bedingten. Und geradezu alarmiert war sie darob, dass Baldwin für diese Gegenseitigkeit den Begriff der Liebe in Anspruch nahm.

 

An diesem Punkt erhob Arendt den angekündigten Einwand: «Der Politik ist die Liebe fremd und wenn sie sich darin einmischt, wird nichts erreicht als Heuchelei.» Arendts Schlüsselwort der politischen Philosophie ist ausdrücklich nicht Liebe, sondern Pluralität: Nur eine Politik, die der Pluralität der Individuen zum Recht verhilft, schafft menschliche Verhältnisse. – Ihre Auseinandersetzung mit dem Eichmann-Prozess hat sie bissig gemacht, misstrauisch gegen alles Emotionale.

 

Arendts Reaktion auf Baldwin wäre nicht so vehement ausgefallen, wären beider Konzepte sich nicht gegen den Anschein so nahe gewesen. In Arendts historisch fundierter und rational verfahrender Theorie ist der Begriff Liebe nicht nur ein Fremdkörper, er steht auch im Verdacht kurzschlüssigen Harmonisierens. Trotzdem entgeht Hannah Arendt nicht, dass in dem bei der Pluralität vorausgesetzten Motiv der Anerkennung so etwas wie Liebe mitspielt. Baldwin hat mit seinem «Brief aus einer Landschaft meines Geistes» eine Leerstelle in Arendts Denken aufgedeckt: Sie hat keine Antwort auf die Frage, wodurch die angestrebte Pluralität möglich werden soll. Und sie weicht diesem Begründungsdefizit aus.

 

Kant hat in seinen späten Schriften jeden Rassismus hinter sich gelassen. Er ist der Paradefall eines Denkers, der mit seinen geistigen Entdeckungen und deren beharrlichen philosophischen Ausarbeitungen auch persönlich gescheiter geworden ist. Mit den drei Vernunftkritiken hat er jene Transzendentalphilosophie erschaffen, die hinter der Erfahrungswelt die kategorischen Gegebenheiten herausarbeitet. Das macht ihn zum Denker des Universalen. Im Spätwerk etwa ab 1792, vor allem in der Schrift «Zum ewigen Frieden» und in «Die Metaphysik der Sitten», ist Kants Augenmerk konsequent auf das kategorial Menschliche gerichtet. Wer ihm unterstellt, dabei doch wieder nur an die Weissen zu denken, hat ihn vermutlich nicht gelesen. In der Rechtsphilosophie definiert er die Aufgabe des Rechts dahin gehend, dieses habe das angeborene Recht jedes Menschen auf Freiheit durchzusetzen.

 

Bei Kant ist es klar: Die unstreitig rassistischen Äusserungen in seinem Frühwerk unterliegen faktisch der Kritik seiner späten Hauptwerke. Das, wofür Immanuel Kant in der Geistesgeschichte steht, hat mit Rassismus nichts zu tun. Gleiches liesse sich vermutlich auch für Hegel sagen. Die wirklich grossen geistigen Konzepte richten sich immer wieder auch gegen ihre Urheber. Und es ehrt diese, wenn sie sich dem Einspruch ihrer eigenen Kreationen stellen. Zumindest Kant darf man diese Ehre zubilligen.

 

Bei Hannah Arendt ist eine solche Klärung und Wendung im Lebenswerk jedoch nicht auszumachen. Vielmehr weist Priya Basil darauf hin, dass Arendts Essay «Macht und Gewalt» aus dem Jahr 1970, eine späte Arbeit also, wieder die gleichen rassistischen Verunglimpfungen und die identischen Stereotypen über Afrika enthält wie zwei Jahrzehnte zuvor die Totalitarismus-Studie. Die so kluge Denkerin ist in diesem Punkt nicht klüger geworden.

 

Priya Basil zieht in ihrem Essay ein bitteres Fazit: «Inzwischen ist mir klar, dass es schmerzlich einfach ist: Hannah Arendt war, trotz all ihrer grossartigen Theorien über Rassismus, über Macht, über die Möglichkeiten von Pluralität in der Politik, rassistisch.» Basil fragt sich, ob es auch anders hätte kommen können, wenn Arendt mehr solche Begegnungen wie in der Korrespondenz mit Baldwin gehabt hätte. Als wohlwollend aufgenommener jüdischer Flüchtling fühlte Arendt sich dem weissen Amerika zu Dank verpflichtet. Hat das ihre Sicht auf die gesellschaftliche Wirklichkeit der USA verengt und ihre denkerische Entwicklung behindert? – Priya Basil lässt nichts unversucht, um ihr Idol zu entlasten. Obschon sie weiss, dass es umsonst ist.

 

Für Arendt-Verehrer wie mich ist die Konfrontation mit diesem augenscheinlichen Versagen angesichts der Rassendiskriminierung unangenehm. Sie wirft nicht nur einen Schatten auf die Denkerin, der ich viel verdanke und die mir wichtig bleibt; der Schatten fällt auch auf mich. Mein Zögern, meine widerstrebende erste Reaktion auf die Enthüllung spiegeln meine Widerstände gegen die Erkenntnis, dass Rassismus auch meine geistige Welt korrumpieren kann.

 

Bild oben rechts: Priya Basil, 2019, Heinrich-Böll-Stiftung, Foto: Stephan Röhl, Ausschnitt, CC BY-SA 2.0

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Cornelia Vogelsanger (Dienstag, 11 Mai 2021 09:30)

    Ein sehr kluger und berührender Artikel, vielen Dank! Beide, James Baldwin und Hannah Ahrendt, sind gezeichnet als Opfer von Rassismus. Mir steht das Werk von James Baldwin näher als das von Hannah Ahrendt, will sagen, ich weiss mehr von Dichtung als von Philosophie, und mir bleibt bei aller Wertschätzung immer auch ein Rest Skepsis gegenüber der reinen Philosophie. Kant war es offensichtlich gegeben, durch konsequentes Denken sein Denken zu reinigen. Aber so weit kommen wohl nur wenige Philosophen. Hannah Ahrendt schliesst den Weg der Liebe aus. Das Erlösende ist
    im radikalen Denken nicht vorgesehen. Aber im Menschen ist es angelegt.