Gebieterisch verlangen Wirtschaft und Presse nach einer verbindlichen Exit-Strategie der Regierung aus dem Lock-down. Sie wollen nicht wahrhaben, dass hierfür im Moment schlicht die Voraussetzungen fehlen.
Seit einem Jahr hat uns die Corona-Pandemie im Griff. Nach einer ersten Welle im Frühjahr folgte ein halbwegs entspannter Sommer. Im Herbst stiegen Ansteckungszahlen, Auslastung der Intensivstationen und Todesfälle wieder stark an: Die zweite Welle war da. Nach partiellem Lock-down bessern sich die Zahlen nun leicht. Und erneut geschieht das zu Erwartende: Immer gebieterischer ertönen die Rufe nach Lockerungen und Rückkehr zur Normalität.
Die Landesregierung wehrt ab. Man wisse zurzeit schlicht zu wenig. Mehrere Fragen sind offen: Können Geimpfte weiterhin ansteckend sein? Wie lange hält der Schutz? Wirkt er auch gegen Mutanten? Welche epidemiologischen Eigenschaften haben die mutierten Varianten des Virus? Deswegen, so der Bundesrat diese Woche, sei es zu früh, um jetzt schon Zusagen für eine Rücknahme von Pandemiemassnahmen per Ende Februar und März zu machen.
Das kommt nicht gut an. Wirtschaftsverbände und ein Teil der Presse werfen dem Bundesrat Mangel an politischer Führung vor. Gebieterisch fordern sie eine verlässliche Exit-Strategie aus dem Lock-down. Damit kennt die Wirtschaft sich aus: Hat man ein Problem, so formuliert man eine Strategie, die mit kernigen Sätzen und bunten Diagrammen Remedur schafft. Nichtwissen gilt nicht; es kommt der Feigheit vor dem Feind gleich.
Niemand will die unangenehmen Wahrheiten wissen, die der Bundesrat der Öffentlichkeit zugemutet hat. Die britische Virusvariante B.1.1.7, die sich in der Schweiz ausbreitet, ist – nach gegenwärtigem Stand der Forschung – um 35 Prozent ansteckender als die ursprüngliche. Letztere weist derzeit einen Reproduktionswert von 1,01 auf – was auf Dauer zu praktisch gleichbleibenden Fallzahlen führen würde. Breitet sich aber zusätzlich die britische Mutante mit einem Faktor R=1,35 aus, so droht uns dennoch ein exponentielles Wachstum (Grafik oben) mit explodierenden Zahlen in den nächsten Monaten.
Vor einem Jahr haben Ärzte und Virologen sich mächtig ins Zeug gelegt, um der Öffentlichkeit zu erklären, was exponentielles Wachstum in einer Pandemie bedeutet. Die Botschaft kam an; die Akzeptanz für die Restriktionen in der ersten Welle war hoch. Heute müsste erneut eine solche Aufklärungsarbeit geleistet werden. Das ist schwieriger als beim ersten Mal. Viele Leute haben die Warnungen satt, und alle leiden direkt oder indirekt unter katastrophalen Auswirkungen der Schliessung ganzer Branchen.
Was in dieser Lage ganz bestimmt nicht hilft, ist der trotzige Ruf nach einer griffigen Strategie, nach klarer politischer Führung. Die Verweigerungshaltung gegenüber dem Nichtwissen ist letztlich in ähnlicher Weise irrational wie die Ausflucht in Verschwörungserzählungen, die ja ebenfalls der Unfähigkeit entspringen, mit Nichtwissen klarzukommen. Die nun eine Instant-Klarheit fordern, sind paradoxerweise vielfach die gleichen, die im letzten Frühjahr den Bundesrat, der mit der Ausrufung der «ausserordentlichen Lage» das Heft in die Hand genommen hatte, der Lust am autoritären «Durchregieren» bezichtigten. Damals konnten sie nicht genug warnen vor einer schleichenden Erosion der Demokratie. Jetzt aber fordern sie plötzlich den starken Staat, der mit überlegenem Wissen und entschlossener Führung den Weg aus der Pandemie weist.
Es wird uns niemand die Aufgabe abnehmen, das Nichtwissen auszuhalten und ohne gesicherte Faktenbasis diejenigen Entscheide mitzutragen, die man im Augenblick verantworten kann. Immerhin wissen wir nach der ersten Welle, dass man die Ausbreitungsdynamik einer Pandemie brechen kann. Das muss auch jetzt geschehen, und zwar besser als beim ersten Mal: fundierter, gezielter und genauer überwacht. Und wenn dann dank Fortschritten bei der Impfkampagne genügend Menschen immunisiert sind, wird ein Exit aus der Lähmung des Lebens in Sicht kommen. Nicht als Strategie, sondern als Realität.
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