Hegel baut in Auseinandersetzung mit Kant das letzte grosse System der Philosophie und kehrt dabei zu metaphysischen Denkmustern zurück. Seine Schüler zertrümmern das Totalitätsdenken und radikalisieren Hegels Hinwendung zur Geschichte. Marx stellt Hegel vom Kopf auf die Füsse, übernimmt von diesem aber mehr als seiner materialistischen Philosophie guttut.
Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770–1831), zurzeit wegen seines 250. Geburtstags (27. August) in den Medien, ist eine der einflussreichsten Gestalten der neueren Philosophiegeschichte. Er knüpft bei Kants transzendentaler Subjektphilosophie an. Die entscheidende Neuerung vollzieht er, indem er die Realität nicht mehr wie Kant als «Erscheinung» versteht, sondern als natürliche und geschichtliche Wirklichkeit. Diese versucht Hegel mit dem schwierigen Begriff des absoluten Geistes zu fassen, der Natur, Kultur und Gesellschaft einschliesst. Hegel hat einen wachen Blick für die Umwälzungen in der Zeit der Industrialisierung und ist offen für neue Sichtweisen der aufkommenden Sozialwissenschaften.
Der absolute Geist verkörpert sich in der physikalischen und organischen Welt, erreicht mit den höchsten tierischen Entwicklungsstufen Bewusstsein und schliesslich im Menschen die Reflexion und das Bewusstsein seiner selbst im subjektiven Geist. Dieser objektiviert sich als freier, tätiger Wille und begreift sich als die alles bewegende absolute Idee, die zum Ziel des Weltprozesses voranschreitet. – Dies in a nutshell das ambitionierte philosophische System Hegels, das ihn zu einem systematischen Interesse an Geschichte und Gesellschaft führt. Hegel ist er erste, der die Entstehung der europäischen Moderne in dieser Weise reflektiert.
Die Humanwissenschaften um 1800 fokussieren in Hermeneutik und Historik auf die Individualität geschichtlicher Phänomene. Massgebend sind die Kriterien des Einzelnen, des Besonderen und des Allgemeinen. Hegel nutzt sie, um Wirkungen und Gefährdungen der im Moderneprozess akzelerierten Geschichte zu erfassen. So erkennt er die mit der Steigerung von Produktivkraft und Lebensstandard verbundene Auflösung der traditionellen Sozialstrukturen in der industriegesellschaftlichen Urbanisierung als philosophisches Problem. Für Hegel gibt es keine gesellschaftliche Integration und keine Sittlichkeit ohne Religion. Die Philosophie hat für ihn die Rolle einer zeitgemässen Theologie, indem sie inmitten der zerrissenen Moderne die Wiederherstellung von Integration und Versöhnung lehrt. Hegel ist seit der Aufklärung der Erste, der sich vom programmatischen Atheismus abkehrt. Ihm geht es darum, «die Vernunft der Religion» aufzuzeigen.
Mit Kant empört sich Hegel über die empiristische Liquidierung der praktischen Vernunft bei Hume. Kritisch sieht er aber Kants Verharren in der Selbstbeziehung der Subjektivität. Das so aufgefasste Subjekt bleibt von der Realität der Geschichte so weit entfernt wie die Erscheinung vom Ding an sich. Für Hegel findet sich das handelnde Subjekt tatsächlich in einer gesellschaftlichen und kulturellen Umgebung vor, und diese muss als selbständige Sphäre des Geistes philosophisch bedacht werden. In allen Facetten seines enorm breit angelegten Denkens geht es Hegel immer um den titanischen Versuch, das explodierende Wissen und die zentrifugalen Kräfte der Gesellschaft seiner Zeit philosophisch in einem schlüssigen System zusammenzuhalten. Habermas verdichtet Hegels Antwort auf Kant wie folgt:
«Hegel hat die Transzendentalphilosophie zu einem Idealismus entwickelt, der die weltkonstituierende und selbstgesetzgebende Subjektivität des kantischen Ichs zu einem Prozess begreifenden Denkens erweitert, wobei dieser wiederum das Ganze aus Natur und Geschichte generiert, also aus sich heraussetzt, um sich in diesem Anderen selbst als die in dessen Inneren treibende Kraft reflexiv wiederzufinden.»
Die «Selbstbewegung des Begriffs» (eine zentrale Hegel-Formel) wird durch erweiternde Negation vorangetrieben und löst eine Dynamik der Vereinigung aus, in der sich ein ursprünglicher Widerspruch abarbeitet. In diesem Vorgang liegt der metaphysische Kern der ganzen Konstruktion: «Wie Gott sich im Spiegel der von ihm selbst geschaffenen Welt wiedererkennt, so das absolute Wissen in ‘seinem’ Anderen.» Dabei stösst Hegel auf das alte metaphysische Problem der Relation von Unendlichem und Endlichem, des Einen und des Vielen. Wenn das Eine in der Mannigfaltigkeit des Seienden Einheit stiftet, kann es nicht als ein Seiendes aufgefasst werden. «Die ‘wahre’ Einheit muss als die Identität des Identischen und des Nichtidentischen gedacht werden.» Hegel verwandelt diesen metaphysischen Gedanken der ontologischen Differenz in einen Reflexionsprozess. Mit dem Begriff der absoluten Idee markiert er den Kulminationspunkt der aus Affirmationen und Negationen verketteten Denkschritte. Im mäandernden, aber gerichteten Gang durch Natur und Geschichte erwirbt der Geist das Wissen, das ihn schliesslich zur Selbstgewissheit führt.
In seinem Geschichtsdenken verschiebt Hegel die vernünftige Freiheit des Subjekts zum objektiven Geist – mit der bedenklichen Folge des Vorbehalts gegen die Demokratie und das kritische Potential der Freiheitsrechte. Seine Geschichtsphilosophie geht aus von dem «einfachen Gedanken», dass Vernunft die Welt beherrsche. Hegel sieht das in zwei historischen Tendenzen bestätigt: Überwindung des magischen Denkens und Abschaffung der Sklaverei. Der darin sichtbare Durchgriff der Vernunft durch die Weltgeschichte ist für Hegel nichts anderes als ein «notwendiger Gang des Weltgeistes». Die Geschichte ist das Material, in der sich die Idee der Freiheit verwirklicht. Geschichte ist eine «zweite Natur», in der es, im Unterschied zur ersten, Unvorhergesehenes und Neues gibt. Sie folgt einem Trieb der Vervollkommnung hin zu einem vernünftigen Telos.
Hegel kann subjektiven und objektiven Geist nur in Unterordnung des ersten unter den zweiten denken. Deshalb lehnt er die demokratische Selbstermächtigung ab; er fürchtet den anarchistischen Keim, der jede Demokratie von innen bedroht. Damit verfehlt Hegel aber den intersubjektiven Sinn von Meinungs- und Willensbildung. Auch im Bereich des Völkerrechts hat Hegel – im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Wilhelm von Humboldt – einen blinden Fleck.
In der Rechtsphilosophie erklärt Hegel das Hineinwachsen des subjektiven Geistes in den gesellschaftlich-politischen Zusammenhang des objektiven Geistes systematisch. Das Recht ist das entscheidende Medium der Freiheit. Hierbei vollzieht Hegel gegenüber Kant einen Perspektivenwechsel von der unhistorischen Betrachtung zu einer Sicht des in gesellschaftlichen Zusammenhängen lernenden Subjekts. Sosehr er dabei hinsichtlich Demokratie und individuellen Freiheitsrechten hinter die Errungenschaften seiner Zeit zurückfällt, so innovativ ist seine Zeitdiagnostik. Hegel entdeckt in der Industrialisierung einen Prozess der Abstraktion, der die vormodernen Formen der Integration auflöst und das soziale Band zu zerreissen droht. Die Rechtsphilosophie wird zum Ausgangspunkt einer kritischen Gesellschaftstheorie. Hegel sieht den entfremdenden Charakter industrieller Arbeit und den Klassengegensatz. Sie sind Folgen der einseitigen Durchsetzung privatrechtlicher Normen in der kapitalistischen Marktwirtschaft. Zugleich beschreibt Hegel die Modernisierung aber auch als fortschreitende Emanzipation der Einzelnen, die einerseits auf der Beherrschung vielfältiger Rollen, andererseits auf der Individualisierung beruht. Die Privatpersonen werden zu freien und gleichen Bürgern, die sich als Privateigentümer zueinander strategisch verhalten und gleichzeitig in ein immer dichteres Netz von Interdependenzen verstrickt sind. «Jeder macht sich die Bedürfnisse und die Arbeit eines anderen im kalkulierenden Umgang zu Mitteln für jeweils eigene Zwecke.»
Für die Gesellschaft und die Individuen hat die Vergesellschaftung über Marktbeziehungen auch einen befreienden und zivilisierenden Effekt. Gleichzeitig sieht Hegel die Logik der unaufhaltsamen Akkumulation von Besitz, die zur Proletarisierung und zum Kolonialismus führt. Der konservativ gewordene Hegel will diese Dynamik mit der zähmenden Macht einer autoritären Obrigkeit auffangen. So überhöht er denn die Monarchie und den Staat überhaupt als Manifestationen der absoluten Idee. Diese gegenaufklärerische Tendenz ist die Folge seiner Ablehnung einer vernunftrechtlichen Begründung der Staatsgewalt. Sie verführt Hegel dazu, die von ihm festgestellten Ungleichgewichte zwischen frühindustrieller Dynamik, Individualisierung und mobilisierter Gesellschaft durch autoritäre staatliche Machtmittel ausbalancieren zu wollen.
Habermas kritisiert diesen konservativen Ansatz: Warum sollten die Bürger nicht Kritik an den Zuständen üben und Gerechtigkeit fordern? Warum sollten sie die Bedingungen nicht demokratisch ändern können? Hegel hegt ein Misstrauen gegen jene Selbstermächtigung des Subjekts, die sich von der Hochscholastik bis zu Rousseau und Kant im Vernunftrecht artikuliert hat. Hegels Schüler werden den absoluten Geist abwickeln und die Vernunft neu als geschichtliche Grösse verstehen.
Der weitere Gang der Philosophie wird die Vernunftmoral zur Sache diskursiver Verständigung machen, vollzogen bei gegenseitiger Perspektivenübernahme und unter Respektierung des zwanglosen Zwangs der besseren Argumente. Dabei wird der kantische Universalismus als kontrafaktisches Moment weiterleben: «Nur die Freiheit erfüllt den Begriff der Autonomie, von der wir wissen, dass niemand frei ist, bevor es nicht alle sind.» Die praktische Vernunft wird in den geschichtlichen Kontingenzen nicht länger als dialektisch durchgreifender absoluter Geist, sondern in Gestalt fehlbarer Lernprozesse agieren.
Hegels Nachfolger haben den metaphysischen Kern von dessen System durchschaut und diesen religionskritisch destruiert. Sie können die Totalität der Welt nicht mehr theoretisch fassen, wodurch diese zum lebensweltlichen Hintergrund verblasst. Indem die Junghegelianer mit dem Idealismus brechen, aber trotz ihres materialistisch-historischen Denkens an einem nichtempirischen Vernunftbegriff festhalten, bereiten sie erneut den Boden eines nachmetaphysischen Denkens. Schon Hume und Kant haben der Metaphysik programmatisch abgesagt; Hegel hingegen ist zum Totalitätsdenken der Metaphysik zurückgekehrt. Doch obschon von vielen Seiten kritisiert, verliert das Hegelsche System seine inspirierende Kraft nicht. Es hat das Auseinanderfallen der Begriffe Natur und Geist verhindert und den Weg freigemacht zu einer philosophischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie.
Die Rekonstruktion vernünftiger Freiheit nach Hegel verweist zum einen auf die Sprache (Habermas hat diesen Strang vornehmlich bei Humboldt und Schleiermacher untersucht, was hier unberücksichtigt bleibt), zum anderen auf den lebensweltlichen Hintergrund samt seinen sozialen Verpflichtungen, Konventionen und Gewaltpotentialen. Die Junghegelianer entwickeln einen kritischen Sinn für repressive Elemente der Lebenswelt und deren kommunikative Voraussetzungen. Sie machen Hegels Begriff der Negation fruchtbar für eine Revision des an der Selbstbeziehung des Subjekts orientierten Vernunftbegriffs: Vernunft besteht – ohne alle metaphysischen oder transzendentalen Konstruktionen – im Gebrauch der Vernunft.
Am Ende der «Dritten Zwischenbetrachtung» gibt Habermas einen Ausblick auf das Ziel des Gesamtprojekts einer Genealogie des Verhältnisses von Glauben und Wissen. Es wird auf die Frage hinauslaufen, ob Lernprozesse uns dahin führen, auf die Gesellschaft gestaltend Einfluss zu nehmen – oder ob wir zu kluger Anpassung an die unbeherrschbaren systemischen Zusammenhänge gezwungen sind. Die Antwort, so Habermas, wird davon abhängen, ob es gelingt, aus religiösen Überlieferungen einen normativen Kern vernünftig anzueignen.
Karl Marx (1818–1883) beansprucht in seiner Kritik von Hegels Rechtsphilosophie, diesen vom Kopf auf die Füsse zu stellen, indem er den durch die Destruktion der Metaphysik obdachlos gewordenen objektiven Geist materialistisch uminterpretiert. Er kritisiert namentlich Hegels Mystifikation des Staats: «Hegel geht vom Staat aus und macht den Menschen zum versubjektivierten Staat; die Demokratie geht vom Menschen aus und macht den Staat zum verobjektivierten Menschen.»
Allerdings gibt Marx dann die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft auf, die für die Autonomie der Privatleute unentbehrlich ist. Seine Denkfigur, wonach der emanzipierte Mensch die Staatsgewalt verinnerlicht («in sich zurücknimmt»), ist wirkungsgeschichtlich verhängnisvoll. Sie führt zur Reduktion der Menschenrechte auf Eigentums- und Vertragsrechte und damit zur Abschaffung subjektiv-privater Grundrechte. «Marx sieht nicht, dass die rechtlich abgesicherte private Autonomie in jeder modernen Gesellschaftsform eine notwendige Bedingung für die demokratische Ausübung der staatsbürgerlichen Autonomie (und vice versa) darstellt.»
In den Studien zur Rolle des Privateigentums tritt «die Gesellschaft» philosophisch an die Stelle «des Menschen», und dies nicht etwa zufällig. Marx und Engels wenden sich polemisch und programmatisch ab von der Bewusstseinsphilosophie. Das spezifisch Menschliche machen sie am Produzieren fest: «Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst.» Marx konzipiert den Historischen Materialismus als eine «Naturwissenschaft vom Menschen». Durch das Festhalten am Prinzip der Emanzipation bleibt diese «Wissenschaft» dem philosophischen Thema der vernünftigen Freiheit verhaftet. Marx sieht die als Hintergrund von Handeln und Bewusstsein wahrgenommene Freiheit im Unterschied zu Hegel nicht mehr uneingeschränkt positiv. Sie hat befähigende und repressive Anteile: als zur Freiheit ermächtigende Produktivkräfte einerseits, als freiheitsbeschränkende Produktionsverhältnisse andererseits.
Der von Marx und Engels entwickelte Begriff der Emanzipation schiesst weit über das hinaus, was von der vernünftigen Freiheit in der Geschichte realistisch erwartet werden kann. Der revolutionäre Umsturz soll zunächst die ökonomische Basis den vereinigten Gesellschaftsmitgliedern unterwerfen; in der Folge soll daraus dann aber die dauerhafte kommunistische Steuerung von Wirtschaft und Gesellschaft hervorgehen. Als Ergebnisse dieser doppelten Revolution erwartet Marx die Entfesselung aller Produktivkräfte und die Entstehung einer solidarischen Lebensform.
Mit der Niederschlagung der Februarrevolution von 1848 erstirbt das beflügelnde Pathos, das aus dem Kommunistischen Manifest spricht. Marx verschiebt die Last der Geschichtsdeutung auf die Krisentheorie. Er beschreibt den Kapitalismus als die Ursache von dessen eigenem Zerfall. Innovativ daran sind die Mehrwerttheorie und der Blick auf die Verselbständigung der kapitalistischen Entwicklungen. In «Das Kapital» läuft die theoretische Ausarbeitung auf einen ökonomischen Determinismus hinaus. Mit seiner fixen Option für die Weltrevolution hat Marx nicht Recht behalten, wohl aber mit seiner Voraussage einer systemischen Verselbständigung des finanzmarktgetriebenen globalen Kapitalismus.
Der fatale Fehler dieser praktischen Philosophie liegt bei der ungeprüften Übernahme von Hegels Kritik an Kants Moraltheorie, auf die Marx seine Zurückweisung der Menschenrechtsidee gestützt hat. Mit der Vorstellung eines revolutionären Bruchs im Kontinuum der Geschichte hat er jedoch einen fruchtbaren Denkanstoss hinterlassen. Die Vorstellung einer endgültigen Revolution jedoch geht darüber hinaus. Sie hat messianische Erlösungshoffnungen beerbt. Entsprechende Motive waren in untergegangenen Staatssozialismen und sind noch bei vielen Exponenten der Arbeiterbewegung sowie linken Intellektuellen virulent.
Bild links: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, porträtiert von Jakob Schlesinger, 1831
Bild rechts: Karl Marx, Foto von E. Dutertre, Algier (1882)
Dies ist der siebente Beitrag der Reihe über meine Habermas-Lektüre (Auch eine Geschichte der Philosophie, 2019, 2 Bde.). Die Übersicht der Reihe:
1. Ostern mit Habermas, 12.4.2020
2. Antike mit Habermas, 31.7.2020
3. Thomas mit Habermas, 2.8.2020
4. Nominalismus mit Habermas, 4.8.2020
5. Von Luther bis Locke mit Habermas, 6.8.2020
6. Kant versus Hume mit Habermas, 8.8.2020
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