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Nominalismus mit Habermas

 

Duns Scotus und mehr noch Wilhelm von Ockham zersetzen mit der nominalistischen Revolution die Metaphysik und stossen die Tür zur Bewusstseinsphilosophie auf.

 

Am Übergang vom Hoch- zum Spätmittelalter kommt es nach jener geistigen Revolution, die von der verzögerten Aristoteles-Rezeption ausgelöst wurde, gleich zu einer nochmals tieferen philosophischen Umwälzung. Sie ist vor allem verbunden mit den Namen Johannes Duns Scotus (um 1266–1308) und Wilhelm von Ockham (um 1288–1347). Die beiden haben als Exponenten im sogenannten Universalienstreit, bzw. als Vertreter des Nominalismus nicht nur Philosophiegeschichte geschrieben, sondern wirken bis in gegenwärtige Fachdiskussionen hinein. Ihr Denken haben sie als «Via moderna» von der «Via antiqua» der thomistischen Scholastik scharf abgegrenzt. 

 

Duns Scotus legt mit seinem «Tractatus de primo principio» den umfangreichsten und komplexesten Gottesbeweis der Scholastik vor, der die Grenzen der natürlichen Vernunft neu vermisst. Durch die schärfere Unterscheidung zwischen Vernunft und Glauben gewinnt die Frage der vernünftigen Erkennbarkeit Gottes neue Dringlichkeit. Im Kern geht es um die Beziehung zwischen Endlichem und Unendlichem, die sich als Fragestellung bis zu Schelling und Hegel verfolgen lässt; letztere fassen sie in die Formel «Identität von Identität und Nichtidentität». Als Seiende sind Endliches und Unendliches sich ähnlich und doch absolut verschieden. Duns Scotus hebt gegenüber der thomistischen Überbrückung mittels der analogia entis die Endlichkeit und Fallibilität des menschlichen Geistes gegenüber der Unendlichkeit Gottes hervor. Deshalb entkoppelt er die Erkenntnis Gottes von der metaphysischen Erkenntnis der Natur.

 

Thomas von Aquins Annahme einer Analogie zwischen den beiden Grössen wird von Duns Scotus als unzulässige Äquivokation durchschaut: Auch wenn beides «Seiendes» ist, überbrückt das die absolute Differenz nicht. «Seiendes» ist eine transkategoriale (für alle Kategorien gleichermassen geltende) Bestimmung und taugt nicht für eine Erkenntnis Gottes auf dem Weg der Analogie – womit die ontologischen Gottesbeweise schon mal hinfällig werden. Mit diesem Gedanken stösst Duns Scotus auf philosophisches Neuland vor. Er wagt sich an eine logisch-semantische Analyse metaphysischer Begriffe. Mit diesem revolutionären Ansatz entkoppelt er die Thematik des Seins von Seiendem von der Metaphysik und macht sie zur transzendentalen Erkenntnisdimension. «Transzendental» hat hier noch nicht die kantische Bedeutung, sondern meint den Vorgriff auf eine dem falliblen Erkennen noch unerreichbare Wahrheit.

 

Seiendes, so die transzendentalsemantische Analyse, ist der bedeutungsärmste und inhaltsreichste Begriff und kann deshalb für Gott und dessen Kreaturen, für Unendliches und Endliches gebraucht werden. Zwischen endlichem Seiendem und unendlichem Seiendem besteht eine disjunktive Beziehung. Sie beschreibt nicht ein Verhältnis zwischen Sache und Sache, sondern zwischen unterschiedlichen semantischen Eigenschaften des Seienden. Mit diesem Wechsel zur semantischen Ebene gelangt Duns Scotus dahin, die vernünftige Erkennbarkeit Gottes bejahen zu können: Die Philosophie kann einen Gottesbegriff entwickeln, der wiederum der Theologie als Beweis ihrer Vernünftigkeit dient. 

 

Voraussetzung dieser Operation ist die Umstellung von Ontologie auf eine Semantik, die zwei unterschiedliche Modi kennt. Damit bricht Duns Scotus die Brücken zwischen Glauben und Wissen ab und entlässt beide in eine bisher ungekannte Eigenständigkeit. Auf lange Sicht ebnet dies auf der einen Seite den Weg zur modernen Wissenschaft. Auf der anderen Seite erlaubt die Semantik des Glaubensmodus ein theologisches Denken, das metaphysische Begriffe mit Natur und Geschichte in Verbindung bringt. Die Allmacht Gottes bedeutet, dass Gott frei wollen kann – was die Kontingenz des Geschehens in der Welt und die Möglichkeit des radikal Neuen erklärt. Die Schöpfung aus dem Nichts ist genau wie die Historizität der Welt als Gottes Willensakt erklärbar. Damit bekommt das Besondere und Konkrete eine neue philosophische Dignität. Die Natur besteht aus kausal geordneten und in diesem Sinn notwendigen Dingen, die auch anders sein könnten. Reflektierte Erfahrung gewinnt als Medium der Erkenntnis dadurch eine ganz neue Bedeutung, und das Individuum wird philosophisch validiert.

 

Weitreichende Folgen zeitigt das Denken des schottischen Franziskaners auch in der Ethik und Rechtsphilosophie. Duns Scotus entwickelt ein deontologisches (von Pflichten ausgehendes) Naturrecht, das den freien Willen als rationales Vermögen begreift. Dieser Wille kann auch das Böse wollen. Mit dem Begriff des radikal Bösen bestreitet Duns Scotus die griechische Vorstellung, wonach im Begriff des Guten zwingend auch dessen Erstreben eingeschlossen ist. Für Duns Scotus ist das Böse nicht ein unvollkommenes Gutes, sondern vielmehr dessen Negation.

 

Das Prinzip des Naturrechts (Gutes tun, Schlechtes lassen) ist nicht in der Lage, alle Grundgüter des Rechts zu begründen. Dieses Defizit schafft Raum für die Entwicklung positiven (nach Übereinkunft gesetzten) Rechts. Duns Scotus unternimmt erste Vorstösse zur Verbindung von Naturrechtsprinzipien mit Bestimmungen positiven Rechts; doch erst Wilhelm von Ockham wird den kühnen und folgenreichen Schritt tun, beim Recht auf eine metaphysische naturrechtliche Begründung überhaupt zu verzichten.

 

Tatsächlich ist es der Engländer Wilhelm von Ockham, Franziskaner auch er, der den Durchbruch zu einem nachmetaphysischen Denken vollzieht. Bei ihm ist Habermas gewissermassen beim Dreh- und Angelpunkt seiner Genealogie des Verhältnisses von Glauben und Wissen angelangt. Allerdings wird sich zeigen, dass die Metaphysik in der weiteren Entwicklung der Philosophie noch längst nicht aus den Traktanden gefallen ist; der Versuch, in Totalitäten zu denken, reizt allen Dekonstruktionen zum Trotz bis in die Gegenwart immer wieder zu philosophischen Entwürfen.

 

Mit der streng semantischen Auffassung wissenschaftlicher Theorien entfaltet Wilhelm von Ockham grosse Wirkung bis zur modernen Naturwissenschaft. Die Natur besteht, das sagt schon Duns Scotus, aus notwendig geordneten kontingenten Einzeldingen. Klarer als sein Mitbruder im Franziskanerorden arbeitet Wilhelm das revolutionäre nominalistische Konzept heraus: Allgemeinbegriffe sind Gedankendinge ohne ontische Korrelate. Mit der Abkoppelung von Metaphysik und transzendierender Ontologie setzt in der Philosophie eine moderne Tendenz der «Vereinseitigung» ein, welche auf der Seite der empiristisch aufgefassten Naturwissenschaften eine gegenläufige «Fortsetzung des vergegenständlichten metaphysischen Denkens» begünstigt. Die Kluft zwischen Glauben und Wissen vertieft sich. Glaubenswahrheiten haben zwar ihre eigene Rationalität als widerspruchsfreies System von Sätzen, aber sie beruhen nicht auf selbstevidenten Wahrheiten. Der «gläubige» ist vom «wissenschaftlichen» Habitus getrennt. 

 

Konsequenterweise ist Wilhelm von Ockham der Meinung, auch Nichtgläubige könnten Theologen sein, denn es gebe einen spezialisierten Umgang der natürlichen Vernunft mit den historisch überlieferten Glaubenssätzen. Zugleich aber entzieht die nominalistische Philosophie der Theologie jene Stütze, auf die Duns Scotus sich noch hat verlassen wollen. Habermas formuliert es so: «Der Abstand des Glaubens vom Wissen nimmt in dem Masse zu, wie die Philosophie davon Abstand nimmt, aus der Frage nach dem Sein des Seienden die Bestimmung eines Gottesbegriffs zu entwickeln, die der Theologie eine Begründung ihres Gegenstandes aus natürlicher Vernunft verspricht.»

 

Wilhelm geht es bei der nominalistischen Negierung der selbständigen Existenz allgemeiner Begriffe besonders um das Verständnis des Individuellen. Wie Duns Scotus rekurriert er auf die aristotelische Vorstellung von Form und Materie, wonach sich die erste in der zweiten konkretisiert und individualisiert. Doch wie ist diese Verbindung zu verstehen, wenn die Form ein blosses Gedankending ist? – Der Nominalismus löst dieses Problem nicht.

 

Während Duns Scotus an einer «Gottesperspektive» auf das Individuum, am «individuierenden Blick Gottes» festhält, wechselt Wilhelm von Ockham zu einer «neutralen» Beobachterperspektive: Er sieht die Person als geistiges Einzelding, genau wie alles Seiende ausschliesslich als Einzelding vorhanden ist. Er schafft so die Grundlage zur Vergegenständlichung der Natur. «Alles, was der fallible Geist in der Welt überhaupt kraft natürlicher Vernunft erkennen kann, lässt sich in der wissenschaftlichen Gestalt logisch geformter und methodisch überprüfter Satzsysteme ausdrücken.» Wilhelm verwandelt so den ontologischen Dualismus von Geist und Materie in das epistemologische Verhältnis von Subjekt und Objekt. Habermas konstatiert an diesem Punkt eine «mentalistische Wende». Sie wird zum Königsweg der Philosophie. Das Konzept eines allmächtigen Gottes, der aus freiem Entschluss eine kontingente Welt schafft, hat den Essentialismus des achsenzeitlichen Weltverständnisses erschüttert. Die Via moderna ist eine bewusstseinsphilosophische Wende. Glaubensakte, Gefühle, Vorstellungen etc. werden als Objekte einer inneren Beobachtung aufgefasst. Diese Introspektion führt zu wechselseitiger Intransparenz und zur Problematisierung des Fremdverstehens. 

 

Mit seinem Denken über Politik und Recht gehört Wilhelm von Ockham mit Marsilius von Padua und Dante Alighieri zu den ersten öffentlichen Intellektuellen, die mit ihren Schriften bewusst Einfluss nehmen auf den Gang der Dinge. Wilhelm bricht mit der aristotelischen Tugendlehre. Für ihn wurzelt Tugend in vernünftigen Willensakten. Die hierbei beratende Lehre ist eine praktische Wissenschaft und klar von philosophischer Spekulation zu trennen. Das Recht ruht auf naturrechtlichen Prinzipien, die aber nicht auf jeden Fall unmittelbar anwendbar sind. Es braucht deshalb ein breit ausgearbeitetes positives Recht und ausserdem ein Verfahrensrecht, das dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit unterliegt. Wilhelm postuliert eine Verrechtlichung der Herrschaft und der Justiz. Herrschaft von Menschen über Menschen ist nur soweit legitim, wie sie zur Sicherung des notwendigen gemeinsamen Handelns dient.

 

Das gilt genauso auch für die Kirche. Wilhelm sieht sie als Parallelfall zum Staat. Als korporativ verfasste Organisation ist sie ein weltliches Phänomen. Dem Papsttum darf keine unbeschränkte geistliche und weltliche Macht zukommen. Oberstes Rechtsprinzip der Kirche – das «evangelische Gesetz» – ist ein Gesetz der Freiheit; die Gläubigen dürfen nicht einem Regime der Knechtschaft unterworfen werden. Der Papst ist irrtumsanfällig. Deshalb soll die dialektische Argumentationspraxis der Artistenfakultät auch in der Kirche gelten. Die letzte Entscheidungskompetenz hat nach Wilhelms Vorstellung bei einem Generalkonzil zu liegen, das alle Gläubigen vertritt. Legitime Herrschaft kann in Kirche und Welt immer nur unter Freien und Gleichen stattfinden.

 

Auch wenn Wilhelm von Ockham noch nicht zu Ideen wie Volkssouveränität und Gleichheit aller Menschen vorstösst: die herrschaftskritische und egalitäre Tendenz seiner Philosophie ragt aus seiner Zeit heraus. Sie liegt in der Konsequenz seiner kühnen Auflösung der hierarchischen Metaphysik und seiner scharfen Trennung von Wissen und Glauben.

 

Bild links: Joos van Wassenhove: postumes Porträt des Johannes Duns Scotus

Bild rechts: Darstellung des Wilhelm von Ockham auf einem Kirchenfenster in Surrey

 

Dies ist der vierte Beitrag der Reihe über meine Habermas-Lektüre (Auch eine Geschichte der Philosophie, 2019, 2 Bde.). Die Übersicht der Reihe:

1. Ostern mit Habermas, 12.4.2020

2. Antike mit Habermas, 31.7.2020

3. Thomas mit Habermas, 2.8.2020

4. Nominalismus mit Habermas, 4.8.2020

5. Von Luther bis Locke mit Habermas, 6.8.2020

6. Kant versus Hume mit Habermas, 8.8.2020

7. Von Hegel bis Marx mit Habermas, 9.8.2020

8. Peirce mit Habermas – und Schluss, 10.8.2020

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