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Antike mit Habermas

 

Weiter geht’s mit der am 12. April begonnenen Besprechung von Jürgen Habermas’ «Auch eine Geschichte der Philosophie». Diesmal steht der Kirchenvater Augustin im Mittelpunkt.

 

Nach Abschluss meiner Habermas-Lektüre (Auch eine Geschichte der Philosophie, Suhrkamp 2019, 2 Bde.) blicke ich zurück auf 1700 in zwei oder mehr Gängen durchgearbeitete Buchseiten, zweihundert Seiten handschriftliche Lesenotizen sowie ein nachwirkendes Denk- und Bildungsabenteuer. 

 

«Was kann heute noch ein angemessenes Verständnis der Aufgabe der Philosophie sein?» Habermas beantwortet die eingangs gestellte Leitfrage mit einer These. Diese bleibt im Hintergrund, bestimmt aber seinen ganz eigenständigen Zugriff auf die Geschichte seines Fachs samt deren Wurzeln in prähistorischen und frühgeschichtlichen Ausprägungen von Mythos und Religion, ja sogar in der Genese des Menschen. Die leitende These lässt sich so zusammenfassen: Genealogisch entspringt Philosophie den Prozessen des Formens und Zerbrechens religiös-metaphysischer Weltbilder. Da in letzteren sowohl Glaubens- wie Wissensinhalte artikuliert waren, bearbeitet Philosophie weiterhin deren gegenseitiges Verhältnis; dies gilt auch noch da, wo sie explizit vom Glauben Abschied genommen hat. Denn wo immer die Philosophie menschlich-gesellschaftliche Praktiken unter dem Gesichtspunkt des Sollens reflektiert, sind säkularisierte Gehalte biblischen Ursprungs mit im Spiel. Exemplarisch zeigt sich dies am historischen Höhepunkt der Praktischen Philosophie: bei Kants Kernthema der Verbindung von Vernunft und Freiheit. Philosophisches Nachdenken über gutes Leben und Tun kann daher auch heute nicht absehen von Erträgen des Diskurses über Glauben und Wissen.

 

Die Rekonstruktion des philosophischen Nachdenkens über Glauben und Wissen also ist der rote Faden, dem Habermas durch Jahrtausende des Denkens und insbesondere dessen jüdisch-griechisch-christlicher und schliesslich säkular-abendländischer Ausprägung folgt. Als Philosoph habe er dabei natürlich eine «asymmetrische Einstellung», da er die Genealogie des nachmetaphysischen Denkens auf Grundlage eines methodischen Atheismus durchführe. Dies könne allerdings «auch als eine Empfehlung verstanden werden, dass sich die Philosophie gegenüber diesem Anregungspotential (gemeint: der Religion) lernbereit verhalten solle, allerdings ohne dafür Abstriche am autonomen Gebrauch der Vernunft zu machen.» (Bd. 1, S. 15, Anm. 7) Wie sehr der Autor dieser Empfehlung selber gefolgt ist, beweisen die zahlreichen auf profunder Kenntnis und scharfer Analyse beruhenden Abschnitte zu religions- und kirchengeschichtlichen sowie theologischen Themen.

 

Einen ersten kurzen Essay zu Habermas’ Opus magnum habe ich hier bereits gepostet. Er reicht bis zum Kapitel über das Urchristentum. Ein Vierteljahr später, nach Abschluss der Lektüre des Werks, ergänze ich diesen ersten Blogbeitrag mit einer kleinen Reihe weiterer Posts zu einer (natürlich lückenhaften) Gesamtdarstellung. Ich beginne mit einem groben Überblick zur Habermas’schen Darstellung der Antike und der Alten Kirche.

 

Bei Plato (428 oder 427–348 oder 347 v. Chr.) beginnt die abendländische Philosophie sich von ihren sakralen Wurzeln zu lösen und entfaltet sich erstmals als umfassende Theorie. Gleichzeitig ist seiner Ideenlehre mit ihrem Stufenaufbau und den entsprechenden Schritten der Erkenntnis auch die Vorstellung einer «Rettung» der philosophisch zu Bildenden – eine Art Heilsweg also – eingeschrieben. Der Platonismus hat in der griechisch-römischen Antike während etwa acht Jahrhunderten eine dominante Stellung. So ist er denn auch das wichtigste intellektuelle Vis-à-vis der sich ausbreitenden christlichen Kirche. Deren Wortführer, die Kirchenväter, pflegen einen polemischen, dabei aber auch geistig fruchtbaren Austausch mit der neuplatonischen Philosophie. Dieser Bildungskultur auf Augenhöhe begegnen und die eigene Sicht in deren philosophischer Sprache ausdrücken zu können, ist in jener Zeit die epochale Anforderung an die christliche Theologie. 

 

Augustin (354–430) ist deren wichtigster Vertreter. Er setzt einen christlichen Platonismus als kirchliche Lehre durch, die bis zum Mittelalter gilt – und heute wieder strittig ist. Das eine theologische Lager sieht in ihr eine geglückte Synthese von Vernunft und Glauben (Josef Ratzinger), das andere eine metaphysische Entstellung der Botschaft vom Reich Gottes (Johann Baptist Metz). Habermas, nicht verwunderlich, neigt der Sichtweise des mit ihm befreundet gewesenen Metz (1928–2019) zu und hält fest, die Theologie habe mit den Ideen von Heilsgeschichte und Menschwerdung Gottes «Diskursuniversen» ins abendländische Denken eingebracht, die auf lange Frist zur Dekomposition festgefügter Weltbilder und metaphysischer Denkweisen geführt hätten.

 

Die Sprache der religiösen Errettung lässt sich nicht in die einer platonisierenden Theologie übertragen. Der philosophisch geleitete Zugang zu einem Absoluten, wie ihn die Ideenlehre vorgibt, fordert eine andere Einstellung und eine andere Sprache als der Zugang der Gläubigen zum göttlichen Logos. Für religiös Beteiligte stehen die Glaubenssymbole Schöpfung und Erlösung oder Kreuz und Auferstehung in intuitiv verstandenen Handlungszusammenhängen. Erst das «Hindurchfiltern der Glaubensgehalte durch den philosophischen Denk- und Argumentationsstil (hat) zur Ausbildung einer wissenschaftlichen Theologie geführt.» Doch diese theologischen Klärungsversuche haben «ihrerseits auch die philosophische Begriffssprache mit der Semantik ihrer Glaubenserfahrungen infiltriert, umgeformt und erweitert.»

 

Der Neuplatoniker Plotin (205–270) liefert mit seiner zwischen Philosophie und Religion angesiedelten Ideenlehre dem Theologen und Bischof Augustin eine ausformulierte Metaphysik als Vorlage und pièce de résistance – wobei Augustin seine Theologie immer zugleich als «die bessere Philosophie» versteht. Bemerkenswert bei Plotin ist seine weitreichende Wirkung bis zu Schelling und Hegel. Mit dem Bemühen um die Formulierung absoluter Transzendenz, die «das Eine» jenseits des Denk- und Sagbaren erfasst, inspiriert er die spekulativen Idealisten des frühen 19. Jahrhunderts. Schelling (1775–1854) bringt das Bemühen um die Erfassung der metaphysischen Totalität auf die geniale Formel «Identität von Identität und Differenz» – Habermas wird immer wieder auf sie zurückgreifen, um die formal-logische Struktur metaphysischen Denkens zu beschreiben. Als metaphysisch gelten diejenigen Begriffe und Konzepte, die über das konkrete Einzelne, Besondere und Allgemeine hinaus auch umfassende Totalitäten für real halten und mit ihnen auf eine Weltbilder erzeugende Weise operieren. 

 

Augustin hat das «credo ut intelligam» (ich glaube, damit ich erkenne – in dieser Form Anselm von Canterbury zugeschrieben) im Zuge seines weit ausgreifenden Werks mehrfach neu gefasst. Es steht sowohl für den Vorrang des Glaubens vor dem Wissen wie für die Vernünftigkeit der Glaubensinhalte. Nun kollidiert aber ausgerechnet der Kern des Glaubens – die Menschwerdung Gottes – mit jeglicher Rationalität. Augustin versucht zu harmonisieren mittels einer elaborierten Deutung der Begriffe Sünde, Freiheit, Gnade und Ewigkeit. Im Kern dieses Theoriegebäudes steht Augustins Lehre von Zeit und Zeitlichkeit, ein geniales Glanzstück spekulativer Philosophie, das heute noch anregen und begeistern kann.

 

Aus der Symbiose mit den Kirchenvätern geht die Philosophie verändert hervor, und zwar bereichert um eine Form der Selbstreflexion, die sie anderthalb Jahrtausende später nach dem Ende von Ontologie und Metaphysik in die Bahnen der Subjekt- und schliesslich der Sprachphilosophie lenken wird. Auf der anderen Seite steht Augustin nach der etwa tausend Jahre vor ihm begonnenen achsenzeitlichen Weltbildrevolution wiederum am Beginn einer neuen Periode der Versprachlichung des Sakralen. Der Verfasser der «Confessiones» blickt statt zum Kosmos ins eigene Innere. Das Ringen ums eigene Heil rückt die Subjektivität in den Blick, sie macht die lebensgeschichtliche Situation des Zweifels zum Thema und die existentielle Wahrheit zum Prüfstein. Augustins Antwort auf solche Selbstprüfung ist erstaunlich modern. Er rät dem Zweifelnden, sich nach innen zu wenden: «Überlege endlich, ob du etwa auch daran zweifelst, dass du zweifelst.» Und: «Also hat jeder, der zweifelt, ob es eine Wahrheit gibt, etwas Wahres in sich, an dem er nicht zweifelt.» (Augustin, De vera religione)

 

So modern der antike Kirchenvater hier erscheint, so gross wird die historische Distanz bei anderen Themen. So hält er etwa fest: «Ich würde dem Evangelium keinen Glauben schenken, wenn mich nicht die Autorität der katholischen Kirche dazu bewegte.» – Das Wachen über den rechten Glauben gilt der Alten Kirche als lebenswichtig. Unter Theodosius ist sie zur einzigen im römischen Reich erlaubten Religion aufgestiegen, sie hat ihre Organisation mit der päpstlichen Spitze in Rom konsolidiert. Gleichzeitig gerät das Imperium in Auflösung. Augustin erlebt beides mit. In diesem Umfeld arbeitet er dreizehn Jahre lang an «De civitate Dei» (Der Gottesstaat). Das Werk ist Dreh- und Angelpunkt des Übergangs von der Kirchenväterzeit zur Theologie des Hochmittelalters. Es spiegelt das Selbstbewusstsein einer Institution, die sich anschickt, das Erbe des römischen Imperiums anzutreten. Die lateinische Kirche formiert sich zur politisch handlungsfähigen Macht, die in der Lage ist, im Zerfall des Reichs die Einheit des christlichen Volks zu behaupten und den Keim für ein christliches Europa zu legen.

 

Augustin entwickelt in dem Werk die Lehre von den zwei Gewalten: der Zwangsautorität des Staates und der geistlichen Autorität der Kirche. Diese hat eine Doppelnatur als Heilsanstalt und weltliche Macht; letzteres aufgrund ihrer privilegierten Stellung im römischen Reich. «De civitate Dei» erweitert die biblische Heilsgeschichte zu einer weit ausgespannten Geschichtstheologie. Der Gottesstaat ist bei Augustin keine Utopie, kein ideales Gebilde, er ist verstrickt in die reale Weltgeschichte. Bis zur Wiederkunft Christi herrscht überall der Kampf zwischen Gut und Böse. Es ist wichtig zu sehen, dass die Civitas Dei ein kritischer Massstab sowohl für die Kirche wie für die weltliche Herrschaft ist. Der Begriff hat hat analytischen Charakter und stimmt in keiner Weise mit dessen heutigem Verständnis überein. Augustin identifiziert die Kirche ausdrücklich nicht mit dem Gottesstaat.

 

Im Verhältnis zwischen Wissen und Glauben, bzw. zwischen Philosophie und Theologie bleibt eine Frage offen: Existiert die Welt ewig, oder ist sie ein Geschöpf des ewigen Gottes? Augustin wendet sich gegen die in der antiken Philosophie gängige Vorstellung von der Ewigkeit des Kosmos und der ewigen Wiederkehr. Die christliche Lehre sieht das Ende der Zeiten als Ziel der Geschichte. Sie rechnet mit etwas Kommendem, das neu und einmalig ist. Dieses Neue – und damit das für den Glauben Entscheidende – ist mit der Vernunft nicht zu fassen. Diese Konsequenz veranlasst Augustin, das Verhältnis von Glauben und Wissen nochmals neu zu fassen: Das «credo ut intelligam» verschiebt sich zur Postulierung einer völligen Unabhängigkeit der Glaubensautorität von der Vernunft. Augustin wird klar, dass für den rechten Weg zum Heil die argumentative Auseinandersetzung mit der Philosophie gar keine Rolle spielt. «Der lebendige, existentiell beglaubigte Gott Abrahams und Isaaks ist nicht obwohl, sondern weil er die natürliche Vernunft übersteigt, dem bleichen Gott der Philosophen überlegen.» Mit dieser pointierten Bilanz spielt Habermas auf das berühmte «Mémorial» Blaise Pascals an.

 

Augustin bleibt beim Anspruch, Theologie sei die bessere Philosophie. Deshalb ist die Heilsgeschichte auch Gegenstand philosophischen Interesses. Umgekehrt studiert er die profane Geschichte unter heilsgeschichtlichen Gesichtspunkten. Dabei kommt es zu einer Auflösung der Fronten zwischen Kirche und Welt. Für die Identifikation des wahren Gottesstaats erfindet Augustin das Motiv der unsichtbaren Kirche, das in der gesamten Theologie- und Kirchengeschichte immer wieder als kritisches Instrument fungiert. Als Ideal ist der Gottesstaat aber nicht nur für die Kirche, sondern auch für den weltlichen Staat eine regulative Grösse. Sie verpflichtet den letzteren, den Frieden zu sichern. Dabei kann der Staat auf ein Naturgesetz abstellen, wonach alle nach Frieden streben, selbst die Bösen, wenn auch bloss aus Eigennutz. Zwar ist solcher Stillhalte-Friede noch kein echter Friede, aber dennoch auch für den Gottesstaat notwendig.

 

Augustin illustriert diese quietistische Position mit der Rechtsstellung der Sklaven im römischen Reich. Obschon deren Diskriminierung mit Gottes Liebesgebot und der Gottebenbildlichkeit aller Menschen frontal kollidiert, fordert Augustin von den Sklaven unbedingten Gesetzesgehorsam. Er verschärft sogar die von Paulus empfohlene Hinnahme des Unrechts, indem er von den Unterworfenen eine Verinnerlichung des Zwangs fordert. An politischer Gerechtigkeit, so konstatiert Habermas, ist dieser Theologe generell nicht interessiert: «Augustin hat das republikanische Denken Roms nicht beerbt.» Vielmehr bahnt der Kirchenvater Luthers verhängnisvoller Zwei-Reiche-Lehre und der autoritären Staatsauffassung eines Thomas Hobbes den Weg.

 

Dies ist der zweite Beitrag der Reihe.

Die Übersicht der Reihe:

1. Ostern mit Habermas, 12.4.2020

2. Antike mit Habermas, 31.7.2020

3. Thomas mit Habermas, 2.8.2020

4. Nominalismus mit Habermas, 4.8.2020

5. Von Luther bis Locke mit Habermas, 6.8.2020

6. Kant versus Hume mit Habermas, 8.8.2020

7. Von Hegel bis Marx mit Habermas, 9.8.2020

8. Peirce mit Habermas – und Schluss, 10.8.2020

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