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Streitsache Demokratie

 

In Thürigen haben die Wähler ein Parlament gekürt, mit dessen Parteistärken sich keine der in Deutschland denkbaren Koalitionen für eine Regierungsbildung ergibt. Was folgte, ist bekannt: CDU und FDP wollten unbedingt das Weiterregieren des populären Linkspolitikers Bodo Ramelow verhindern und machten zu diesem Zweck mit geschlossener Unterstützung der AfD den kaum bekannten Thomas Kemmerich von der kleinen FDP zum Ministerpräsidenten. Der Skandal war so gewaltig, dass nicht nur Kemmerich auf vielfachen Druck umgehend zurücktrat, sondern auch die CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer ihren Posten und die damit verbundene Kanzlerkandidatur aufgeben musste. 

 

Grund der Aufregung ist die Bereitschaft von CDU und FDP, sich in die Abhängigkeit von der AfD zu begeben. Sie gewährten dieser damit eine Machtposition, die sie trotz teilweise grosser Wahlerfolge in Deutschland bislang nirgends hat. Die AfD steht im Ruch einer demokratiefeindlichen Partei, obschon sie das heftig abstreitet und vielmehr allen anderen vorwirft, sie undemokratisch auszugrenzen. Ausgerechnet in Thüringen aber hat die AfD einen Björn Höcke an der Spitze, den Frontmann des «Flügels» und zweifelsfrei völkisch-faschistischen Scharfmacher. Da verfangen die in anderen Zusammenhängen vielleicht angängigen Beschwichtigungen, wonach viele AfD-Anhänger harmlose enttäuschte Konservative seien, nicht so recht.

 

Trotzdem hat der NZZ-Kommentator Benedict Neff die Vehemenz der Thüringer Krise als absurd bezeichnet. Denn was da gerade passiere, sei ganz einfach Demokratie. Auch in Wertungen der NZZ zu Vorgängen rund um Donald Trump taucht diese Abgeklärtheit immer wieder auf: Trump sei ein normaler Politiker, der nur tue, was Politiker eben tun, und das «System USA» mit Demokratie, Rechtsstaat und Gewaltenteilung sei elastisch und stark genug, um mit einer gewissen Exzentrik fertigzuwerden und Fehlentwicklungen zu korrigieren. Deshalb gelte es kühlen Kopf zu behalten, die Krisen-Rhetorik abzurüsten und der Bevölkerung in Deutschland oder in den USA demokratische Reife zuzubilligen.

 

Es ist offensichtlich, dass mit dem Begriff der Demokratie in der aktuellen Auseinandersetzung ganz unterschiedlich operiert wird, ja, vielleicht sogar Verschiedenes gemeint ist. Zwei typisierte Positionen seien hier vereinfachend einander gegenübergestellt.

 

Position A denkt beim Begriff Demokratie an die in Wahlen oder Abstimmungen festgestellten Mehrheiten. Die aus demokratischen Prozeduren hervorgehenden Machtverhältnisse sind bedingungslos zu respektieren, da es neben demokratischen Wahlen keine andere Quelle der Legitimität gibt. Also: Trump ist gewählt, und jede Kritik an dieser Tatsache ist somit undemokratisch. Der US-Senat hat das Impeachment abgelehnt; Ende der Diskussion! Und wenn der Thüringer Landtag – mit welcher Zusammensetzung der Stimmen und aus was für taktischen Gründen auch immer – Herrn Kemmerich wählt, so ist daran nicht zu rütteln. Demokratie ist aus der Sicht von Position A eine formale Angelegenheit. So lange deren Regeln eingehalten sind, hält sie jede Kritik an demokratischen Entscheiden nicht nur für verfehlt, sondern darüber hinaus für demokratieschädigend.

 

Position B versteht unter Demokratie eine politische Kultur des sachlichen Dialogs, der Verantwortung für Folgen politischen Tuns, der humanen Massstäbe und der Verständigung. Um eine solche Art und Weise der Politik zu ermöglichen, braucht es die entsprechende Bildung und Kommunikation. Sie schaffen mit Information, Wissen und Urteilsfähigkeit die geistigen Ressourcen demokratischer Kultur. Demokratie ist in diesem Verständnis nicht bloss ein eine Übereinkunft zu Regeln und Abläufen. Sie ist darüber hinaus auch ein politisches Ideal, das in der Praxis nicht vollständig realisierbar, aber als Orientierungsgrösse unerlässlich ist. Position B folgt demnach einem inhaltlich gefüllten Begriff von Demokratie. Die Einhaltung der formalen politischen Regeln ist auch für sie notwendig, aber nicht ausreichend.

 

Vertreter  der Position A geben sich üblicherweise explizit anti-idealistisch und nicht-moralisch, indem sie Ideale und Moral als in der Politik gefährliche Hybris geisseln. Für ihre Haltung können sie geltend machen, dass idealistische und von Moral getriebene Politik in der Tat immer wieder totalitäre Auswüchse gezeitigt hat. Was Verfechter von Position A jedoch meist übersehen, ist ihre eigene idealistische Voraussetzung: Sie stellen sich das politische Subjekt gern als wohlwollend, unvoreingenommen und von besten Absichten geleitet vor. Zumindest aber glauben sie an dessen Fähigkeit zur Selbstkorrektur und Selbstheilung. Es bereitet ihnen Mühe, den Gedanken zuzulassen, dass es in der Demokratie auch übelwollende Akteure geben kann. Konsequente Verfechter von Position A sind blind für Abirrungen vom Geist und Inhalt der Demokratie – oder sie nehmen diese als das vermeintlich kleinere Übel hin; kleiner im Vergleich zur befürchteten Schwächung der demokratischen Form.

 

Bei Position B gibt es eine Gefahr, politische Haltungen vorschnell und generalisierend zu werten, was dazu führen kann, einen Teil des Spektrums vorsorglich diskreditieren und vom demokratischen Prozess ausschliessen zu wollen. Exponenten dieser Position glauben dabei in demokratischer Verantwortung zu handeln, was sie dazu verleiten kann, demokratische Formen und Regeln hintanzustellen zugunsten inhaltlicher Kriterien. Das Problem bei Position B liegt oft in der Schwierigkeit, effektiv demokratiefeindliche Kräfte eindeutig zu überführen. Die rechtlichen Hürden für ein Verbot von Parteien sind mit guten Gründen hoch. Die Auseinandersetzungen spielen sich daher mit wenigen Ausnahmen nicht juristisch, sondern in den Feldern des politischen Kampfs und der öffentlichen Debatte ab. Hier haben Dispute um Inhalte und Grenzen der Demokratie ihren legitimen Ort. Dennoch neigt die Position B dazu, aus politischen Konflikten allzu rasch Existenzfragen der Demokratie zu machen und auf Ausschluss von Gegenpositionen zu drängen.

 

Position A hat mit ihrem einseitig formalen Demokratieverständnis die Tendenz zum Verharmlosen und schätzt mitunter auch extreme Positionen als «durchaus noch normal» oder «im Rahmen der Normalität tolerierbar» ein.

 

Position B neigt mit ihrem stark inhaltlich geprägten Begriff von Demokratie zum Dramatisieren und ruft oft allzu schnell den Krisenfall aus, in dem es dann nicht mehr um politische Entscheidungsfragen, sondern ums Grundsätzliche geht: um Sein oder Nichtsein der Demokratie.

 

Sind die beiden Positionen in vergleichbarer Weise, vielleicht gar spiegelbildlich defizient? – Das sind sie nicht, denn Position B leidet höchstens unter einem Ungleichgewicht von Inhalt und Form der Demokratie, indem sie letztere manchmal zu gering achtet. Position A hingegen blendet die Inhalte konsequent aus, ist also grundsätzlich einseitig. So hat sie kein Instrumentarium, um Höckes völkisches Programm oder Trumps spalterische Exzesse als das zu demaskieren, was sie im Kern sind: demokratiefeindliche Machenschaften. Die Defizite der Position B liegen nicht in einer fehlenden Grundlage, sondern in gelegentlich verzerrten Relationen. Wenn ihre Verfechter übers Ziel schiessen, dann deshalb, weil ihre Sensoren für inhaltliche Abirrungen zu empfindlich reagieren. Das ist zwar keine Kleinigkeit, aber mit Sicherheit weniger schlimm für die Demokratie als das Fehlen jeglicher inhaltlicher Massstäbe.

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