Walter Benjamin und Gershom Scholem: in Berlin aufgewachsen, befreundet, verschiedene Wege gegangen und doch immer verbunden geblieben. Ihre Korrespondenz ist ein historisches und geistesgeschichtliches Monument.
Vierzig Jahre nach Walter Benjamins Tod hat sein lebenslanger Freund Gershom Scholem ihre Korrespondenz der Jahre 1933 bis 1940 veröffentlicht. Der Briefwechsel zeugt von einer gegenseitigen Treue, die sich auch in Enttäuschungen, Divergenzen und erzwungenem Schweigen bewährte. Zugleich dokumentiert er den Überlebenskampf des vom Nationalsozialismus Vertriebenen und dessen tragisches Ende. Es ist ein Schicksal unter Tausenden, das hier plastisch in Erscheinung tritt und in das der Austausch mit einem engen Freund tiefe und erschütternde Einblicke gibt.
Briefwechsel sind ein literarisches Genre ganz eigener Art. Wenn sie nicht von vornherein mit der bestimmten Absicht späterer Veröffentlichung – und also genuin vor Publikum – entstanden sind, machen sie den Leser zum Voyeur. Er sieht sich in eine Privatsphäre versetzt, in der er als Mitwisser nicht vorgesehen war. Doch nun liegen die Briefe gedruckt vor, aus was für Gründen auch immer. Vielleicht haben die Verfasser es irgendwann im Nachhinein so gewollt, oder es hat wenigstens einer der Beteiligten der Publikation zugestimmt – und wenn nicht, dann hat ein Herausgeber die Edition veranlasst. Seine Beweggründe können in der Bedeutung der schreibenden Personen, in historischen Umständen oder im Informationsgehalt der Briefe liegen.
Briefwechsel, in denen alle drei Publikationsgründe zusammenkommen, zählen zu meinen bevorzugten Lektüren. Ihre Wahl ist manchmal zufällig. Auf den zwischen Ingeborg Bachmann und Hans Magnus Enzensberger beispielsweise stiess ich durch eine Rezension. Er zeigt eine Briefbeziehung in oft beklemmender Schräglage, oszillierend zwischen Freundschaft und Erotik, in der vor allem Enzensberger wortreich verhüllt, was er eigentlich sagen will. Doch auch so wird da im brieflichen Austausch literarische Arbeit vorangebracht, wird ermutigt, kritisiert, angeregt. Und selbstverständlich getratscht.
Ganz anders die zweibändige Auswahl von Prousts Briefen. Hier habe ich im Zuge ausgedehnter Proust-Lektüren einen Mann kennen und bewundern gelernt, der in allem Stil und Haltung zeigt. Prousts Korrespondenz bringt eine vollendete Eleganz des Gedankens zur Deckung mit geschliffener Form, und zwar selbst dann, wenn es um Nichtigkeiten geht. Sein brieflicher Nachlass ist zum Monument eines literarischen Lebens geworden. Da hat einer wirklich um der Sprache Willen gelebt.
Doch zurück zum eben gelesenen Briefwechsel zwischen Walter Benjamin (1892–1940) und Gershom Scholem (1897–1982). Benjamin, der am Ende auf der Flucht vor den Nazis und den mit ihnen kollaborierenden Franzosen an der spanischen Grenze aus dem Leben schied auf der einen Seite und Scholem, Weggefährte Benjamins seit der gemeinsamen Jugend in Berlin, bereits 1923 aber nach Palästina ausgewandert, auf der anderen. Scholems Briefe an Benjamin galten lange als verschollen, bis sie 1980 in einem Archiv der DDR, in das sie nach einem Umweg über Moskau gelangt waren, endlich auftauchten. So kam Scholem zwei Jahre vor seinem Tod in die Lage, die Korrespondenz mit Benjamin aus dessen Exilzeit fast vollständig edieren zu können.
Scholem hat die fast unglaubliche Geschichte des Auftauchens seiner Briefe an Benjamin im Vorwort rapportiert. Sie schreibt gewissermassen die Lebensumstände Benjamins im Exil fort, die dieser mit Tausenden von Geflüchteten teilte: permanent am Rande des lebensbedrohenden materiellen Elends, der zermürbenden Ungewissheit und Aussichtslosigkeit ausgesetzt, immer wieder an Leib und Leben akut gefährdet. In Paris, wo Benjamin nach der Flucht aus Deutschland 1933 sich vorerst einigermassen gut aufgenommen fühlte, kippten die Verhältnisse wegen der rasant gewachsenen Zahl der Exilanten und der fehlenden Verdienstmöglichkeiten bald ins Prekäre. Er schreibt einmal an Scholem, er könne wegen seiner Angewiesenheit auf die Bibliothèque nationale de France und des regen geistigen Klimas eigentlich nur in Paris leben und arbeiten; wegen der hohen Lebenskosten und geringen Einkünfte aber ginge dies ausgerechnet dort ganz und gar nicht.
Benjamins und Scholems Arbeiten sind die wichtigsten Themen in der Korrespondenz. Leser des Briefwechsels erleben die Entstehung von Benjamins nachträglich berühmt gewordenen Schriften wie «Berliner Kindheit um 1900», «Goethes Wahlverwandtschaften», «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit» und «Franz Kafka» Schritt für Schritt mit. Gegen Ende steht mit wachsendem Gewicht der gewaltige Torso «Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts» im Zentrum. Bei Scholem wiederum dreht sich alles um seine Erforschung der jüdischen Kabbala, jener mystischen Geheimlehre, als deren eigentlicher Wiederentdecker er gilt.
Äusserlich entwickeln sich die beiden Freunde voneinander weg: Benjamin vertieft sich in die europäische Romantik und Moderne, um die geistige Signatur seiner Gegenwart zu entschlüsseln. Deshalb zieht es ihn trotz seines von schlichten Existenznöten bestimmten Vagabundierens immer wieder nach Paris. Er sträubt sich gegen eine vor Kriegsausbruch noch leicht mögliche Übersiedlung nach New York, wo das von Adorno und Horkheimer geleitete Frankfurter Institut für Sozialforschung seinen Exilsitz genommen hat. Desgleichen verweigert er sich Scholems Vorschlägen, ihm nach Palästina zu folgen.
Versteift sich Benjamin also auf seinen Verbleib im Kern-Abendland und seine ausschliessliche Vertiefung in dessen jüngste Geistesgeschichte, so hat sich Scholem früh dem jüdischen Revival in Palästina verschrieben und seine Kräfte auf die Erforschung eines vergessenen Strangs der jüdisch-europäischen Religionsgeschichte gerichtet. Nun wäre der Briefwechsel der beiden nicht derart faszinierend, gäbe es zwischen den so entfernt liegenden Interessengebieten nicht eine Überlappung, nämlich den Messianismus. Auf der einen Seite hat die Philosophie durch Hegel und Marx eine Dialektik des historischen Fortschreitens hin zu geistig und materiell höheren Levels postuliert, der zu Recht eine messianische Grundierung attestiert wird. Und auf der Seite der jüdischen Religion hat sich eine explizite Messias-Erwartung ausgeprägt, die auch in der mystischen Kabbala ihre spezifische Form gefunden hat.
Und da wird es nun brennend interessant. Walter Benjamin bewegt sich unter den Intellektuellen im Pariser Exil in einer stark kommunistisch geprägten Szene und hat selbst Sympathien für den Marxismus. Allerdings ist er empfindlich gegen dessen Dogmatismen, wie sie sich im historischen Materialismus mit dessen behaupteter zwangsläufigen Entwicklung zur klassenlosen Gesellschaft äussern. Er ist allenfalls ein Anhänger marxistischer Analysen, teilt aber nicht die kommunistische Gläubigkeit.
Gershom Scholem, der schon in seiner Jugend zum Kommunismus seines geistigen Umfelds auf Distanz gegangen ist, kennt Benjamins marxistische Neigungen und ist im Zweifel, wie diese zu verstehen seien. Im Briefwechsel kommt es wiederholt zum Disput über diese Frage. Die Auseinandersetzung stellt beider Freundschaft auf eine harte Probe, weil Benjamins Position in Scholems Augen nicht klar genug ist. Benjamin jedoch will sich nicht gegen etwas festlegen. Dies nicht etwa aus geistiger Bequemlichkeit, sondern um sich die Möglichkeit zu bewahren, «das widerspruchsvolle und bewegte Ganze, das meine Überzeugungen in ihrer Vielheit ausmachen, zum Ausdruck zu bringen» (Briefentwurf vom 6. Mai 1934). Und im abgeschickten Brief gleichen Datums schreibt er: «Aus Erfahrung wissen wir beide, welche Behutsamkeit der bedeutsame Briefwechsel fordert, den wir einer jahrelangen Trennung abringen. Diese Behutsamkeit schliesst keineswegs aus, dass schwierige Fragen berührt werden.»
Dass die «schwierige Frage» schliesslich zur Ruhe kam, liegt einerseits an einem politischen Faktum. Nach Bekanntwerden des Hitler-Stalin-Pakts war die unter Emigranten zuvor als antifaschistische Schutzmacht gesehene Sowjetunion völlig diskreditiert und der Kommunismus entsprechend entzaubert. Zur Annäherung der Briefpartner beigetragen hat andererseits auch Benjamins Interesse an Scholems Kabbala-Forschung. Letzterer entdeckte in der jüdischen Mystik jene Art von negativer Theologie, die auch von christlichen Mystikern bekannt ist: Von Gott lässt sich nur sagen, dass man ihn nicht kennt und von ihm nichts weiss – ja, er wird zum eigentlichen Begriff des Nichts. Diese Denkstruktur findet Scholem wieder im kabbalistischen Messianismus: Er ist die Negation konkreter religiöser Hoffnung, eine Offenbarung des Nichts. Diese Hinweise haben Benjamin förmlich elektrisiert.
In seinem letzten in Paris geschriebenen Werk, den 18 Thesen «Zum Begriff der Geschichte», findet sich der Widerhall dieses Austauschs mit Scholem. In den berühmten Thesen verabschiedet Benjamin sich nun sehr klar vom historischen Materialismus, tut dies aber in einer Weise, die dessen Zielhorizont transformiert in ein «messianisches» Geschichtsdenken. Für Benjamin hat dieses allerdings weder mit religiöser Hoffnung noch mit säkularem Fortschrittsglauben zu tun, sondern allein mit dem Umstand, dass die Möglichkeit der Erlösung eine Denknotwendigkeit ist, und sei es nur als Negativfolie der historischen Erfahrung.
Der Faden dieses Gedankens ist noch kaum richtig aufgenommen worden. Er lässt sich verbinden mit Kants Rechtsdenken in der Schrift «Zum ewigen Frieden». So wie Kant den immerwährenden Weltfrieden als regulative Idee begreift, die als Denkfigur notwendig ist, um weltpolitische Praxis beurteilen und kritisieren zu können, so hebt auch die Negativität des kabbalistischen Offenbarungsdenkens dieses auf eine Meta-Ebene der kritischen Reflexion von konkreten Hoffnungen. Vorstellungen von messianischer Erlösung oder auch von klassenloser, nicht-entfremdeter Gesellschaft auf dieser Kant’schen Linie zu deuten, nimmt ihnen das destruktive Potenzial und verleiht ihnen aufklärerische Kraft.
Walter Benjamin hatte nicht mehr die Möglichkeit, die in den 18 Thesen angelegten Gedanken auszuführen. Kurz nach deren Abfassung standen die Deutschen vor Paris. Benjamin gab dem befreundeten Georges Bataille seinen Nachlass zur Aufbewahrung und floh mit dem letzten Zug nach Süden. Der Briefwechsel bricht vor seiner Flucht ab. Nach zermürbender Irrfahrt und grossen Strapazen erreichte Benjamin die spanische Grenze. Als ihm dort bei Port Bou der Übertritt verwehrt wurde, nahm er sich wegen drohender Auslieferung an die Deutschen am 26. September 1940 mit Morphium das Leben.
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