Supermarkt in Portland, Oregon, USA (Wikimedia, lyzadanger/fredmeyer © CC BY-SA 2.0)
Des Guten zuviel, so weiss die Redewendung, sei eben nicht gut. Doch vielleicht stimmt das gar nicht. Vielleicht muss manches zuviel sein, damit es gut sein kann.
Ein Überdruss angesichts der überwältigenden Vielzahl an Konsumgütern, an Auswahlmöglichkeiten, aber auch an persönlichen Dingen gehört zum Repertoire der Saturierten. Das leise Grauen angesichts von zwanzig Laufmetern Kühlregal mit Joghurts im Géant Casino ist das sprechende Beispiel. Kein Wunder, findet eine Avantgarde der Reduktion wachsende Aufmerksamkeit. Das Aufräumen und Ballastabwerfen ist zum Geschäftsmodell geworden für Coachs, die das dazu Nötige lehren. Digitale Nomaden ohne festes Zuhause und mit einem Minimum beweglicher Güter, die in ihren Rollkoffer passen, avancieren zu bewunderten Virtuosen der ungebundenen Mobilität.
Dabei folgt die Verminderung nicht etwa einem asketischen Ideal. Das Prinzip des Weniger dient einem Mehr. Mit dem Ordnungmachen und Ausmisten entstehen freier Raum, Leichtigkeit, Übersicht und Wohlbefinden. Sich nicht an Besitztümer zu binden, kann neue Optionen erschliessen: sharing statt owning. Die gewonnenen Grade an Mobilität erstrecken sich nicht allein auf Ort und Art der Tätigkeit, sondern auf die gesamte Lebensweise. Statt ein Haus zu haben, kann man überall wohnen; statt ein Auto zu besitzen, nutzt man jederzeit und überall das gerade passende Vehikel; statt sich mit Bildern, Büchern, CDs und persönlichen Erinnerungsstücken zu umgeben, richtet man sich den mobilen Zugang zu sämtlichen Manifestationen der Kultur ein und hält die Spuren des eigenen Lebens in klickbarer Reichweite.
Der Überfluss ist nicht kleiner, nur anders. Doch auch in veränderter Form wird er über kurz oder lang wieder als Problem wahrgenommen werden.
Selbstverständlich ist Überfluss immer ein Problem der happy few. Global und erst recht welthistorisch gesehen tritt er nur bei einer quantitativ unerheblichen Minderheit in Erscheinung. Offenbar genau deswegen jedoch ist für die Menschen das Überfliessen über das Mass des Lebensnotwendigen seit alters das Wunschziel und die Glücksvorstellung par excellence.
Der Traum vom Überfluss hat zu ganz unterschiedlichen Leitbildern geführt. Dasjenige der materiellen Erfüllung besteht in der Überwindung aller Knappheit und Mühsal und ist so zur unerschöpflichen Triebkraft von Fortschritt und Wachstum geworden. Dieses Movens hat allerdings sein eingebautes Paradox in dem Umstand, dass es, um funktionieren zu können, stets zumindest eines unbefriedigten Rests bedarf. Der Antrieb zum Neuen und Besseren darf ja nie erlahmen.
Die Ökologiebewegung hat denn auch in diesem Wachstumsmodell die Ursache eines erwartbaren Kollapses ausgemacht und fordert die Abkehr von diesem Kurs. Doch worin genau soll die Korrektur bestehen? Es hat nicht an Versuchen gefehlt, diese Frage zu beantworten. Doch zu Ende gedacht ist noch keiner.
Eine radikale Antwort auf den Wunsch nach Überfluss gibt der Buddhismus: Ziel ist nicht die Erfüllung der Wünsche und Begierden, sondern deren vollständige Überwindung. Das Problem dieses Konzepts ist seine esoterische Abkehr von der realen Welt. Der Buddhismus funktioniert allenfalls in Klöstern oder meditativen Auszeiten; in der Gesellschaft – auch buddhistisch geprägter Kulturen – findet er keinen Ort. Das Ergebnis ist eine wie vermutlich bei keiner anderen Religion radikale, kategoriale Spaltung zwischen Wirtschaft und Alltag einerseits und religiösem Denken andererseits.
Im jüdisch-christlichen Denken hat der Überfluss eine Hauptrolle – aber nicht als Thema menschlichen Strebens, sondern des göttlichen Gegenübers. Der im Alten Testament erzählte Auszug der Israeliten aus der ägyptischen Gefangenschaft werde, so heisst es, in ein Land führen, wo Milch und Honig fliessen. Ist von Gottes Schöpfung die Rede, so gehört das Motiv des Überflusses dazu. Und auch die immateriellen Gaben Gottes, sein Wohlwollen für die Menschen, sind stets grösser als diese es verdienen – Überfluss auch hier.
In der Vorstellungswelt der Bibel ist also der Überfluss keine Zukunftshoffnung. Er ist immer schon da, materiell genauso wie geistig-spirituell, und die Menschen sollen sich dieser – im wörtlichen Sinn – Gegebenheit ihrer Existenz anvertrauen. So dies gelänge, könnte es zu einer entspannten und gleichwohl aktiven Lebenshaltung führen. Sie würde sich als ein Mit-Schaffen in der auf Überfluss angelegten Schöpfung verstehen – ohne das panische Getriebensein durch die Angst vor drohenden Wachstumseinbrüchen.
Im Begriff des Überflusses schillern die positiven und negativen Bedeutungen zwischen dem ungesunden Zuviel und dem lebensfreundlichen Immer-Genug. Das hängt auch daran, dass ein genaues Bemessen des gerade Notwendigen prinzipiell nicht möglich ist. Die Bedürfnisse und Notwendigkeiten sind nie exakt voraus zu bestimmen, und die Produktion der Güter, wie erst recht deren Innovation, kann nicht punktgenau geplant werden. Das ist, nebenbei bemerkt, einer der Gründe, weshalb Planwirtschaft nicht funktioniert. Nur wenn dafür gesorgt ist, dass das Gefäss stets überfliesst, kann sichergestellt werden, dass dieses auch immer voll ist.
Bibliothek im Stift St. Florian bei Linz (Foto: Urs Meier)
Der Mechanismus sei abschliessend kurz verdeutlicht am Beispiel der geistigen Güter. Ich kann nicht im Voraus wissen, was mich interessiert und fasziniert oder was für mein intellektuelles Fortkommen eine Rolle spielen wird. Erst wenn es da ist, kann ich wählen. Und dieses Auswählen ist ein komplexer, nicht vorhersehbarer Prozess von Informationen, Empfehlungen und Zufällen. Nur der Überfluss des Angebots erzeugt eine Sphäre des freien Flusses und (allenfalls streitbaren) Austausches von Ideen, Kunstwerken und Denkweisen.
Stellen wir also dem Bild der zwanzig Regalmeter Joghurt dasjenige eines reich bestückten Zeitschriften- und Zeitungskiosks oder einer über Jahrhunderte aufgebauten und gepflegten Bibliothek gegenüber. Sie folgen alle dem gleichen Gesetz, und es dürfte kaum möglich sein, jemals für andere zu entscheiden, wo der Überfluss gut ist und wo nicht.
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