Die Instrumente der direkten Demokratie in der Schweiz leiden unter ihrer Übernutzung durch politische Parteien. Es braucht eine neue Form der Gewaltentrennung.
Fünf Tage vor den nationalen Wahlen hat der «Tages-Anzeiger» eine kleine Strassenumfrage zu den sieben Zürcher Kandidatinnen und Kandidaten für die zwei Ständeratssitze gemacht. Zumindest die zwei amtierenden und erneut kandidierenden Ratsherren sowie die beiden gegen sie antretenden Frauen hatten in den letzten Wochen eine starke Medienpräsenz: Interviews, Porträts, Debatten – das ganze Karussell. Hinzu kommt die übliche Parteienwerbung mit Plakaten, Inseraten, Flugblättern, Social Media, Strassenaktionen etc.
Am Zürcher Bellevue machte die Zeitung Stichproben bei Passanten, ob sie die Anwärterinnen und Anwärter auf Fotos erkennen und ob sie diese der richtigen Partei zuordnen können. Einzig eine 82jährige Rentnerin hat den Test mit lauter richtigen Antworten bestanden. Ein 57jähriger Apotheker hat immerhin die drei Frontrunner identifiziert und zugeordnet. Den übrigen Befragten ging es etwa so wie der 23-jährigen Germanistikstudentin, die keinen einzigen Namen wusste. (Sie hatte bereits gewählt).
Kurz vor diesem «Tages-Anzeiger»-Bericht sind die Ergebnisse der von der Forschungsstelle Öffentlichkeit und Gesellschaft (FÖG) der Universität Zürich im Jahresrhythmus durchgeführten Untersuchung zur Medienqualität in der Schweiz herausgekommen. Der FÖG-Bericht konstatiert, dass eine wachsende Gruppe unter den über 15-Jährigen mit sogenannten Hardnews (Informationen über Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur) klar unterversorgt ist. Der Anteil dieser «News-Deprivierten» ist in den letzten zehn Jahren um 15 Prozent auf 36 Prozent angewachsen. Bei den 16- bis 29-Jährigen macht er inzwischen 56 Prozent aus.
Die seit langem kursierenden Befürchtungen über eine unzureichende Informationsbasis des Stimmvolks sind mit diesem Befund erhärtet. Mehr als ein Drittel hat nicht die Voraussetzungen für eine qualifizierte politische Partizipation; bei den unter 30-Jährigen ist es sogar die Mehrheit. Zudem liegt das Niveau der Kategorie der News-Deprivierten so tief, dass auch viele der höher Eingestuften nicht über genügend Wissen verfügen dürften, um souverän wählen und abstimmen zu können.
Bei Sachabstimmungen geht es häufig um komplexe Belange. Wer hier auf dem Niveau der zu entscheidenden Themen teilnehmen will, muss die politischen Prozeduren lange voraus mitverfolgen und sich deshalb permanent auf dem Laufenden halten. Selbst ein gründliches Studium der amtlichen Abstimmungsunterlagen reicht da nicht.
Wahlentscheide hingegen sind einfacher und klarer als Sachabstimmungen. Sie erfordern nicht sosehr ein Wissen, sondern beruhen auf Übereinstimmungen mit politischen Haltungen und auf der Einschätzung von Personen. Solche Entscheide zu fällen, entspricht einer verbreiteten menschlichen Alltagskompetenz. Im Unterschied dazu fordert das Abwägen bei Sachentscheiden viel komplexere Fähigkeiten und Kenntnisse.
Manche Beobachter der politischen Szene verharmlosen die Sache, indem sie die generell tiefe Wahl- und Stimmbeteiligung – sie liegt bei fast allen Urnengängen klar unter 50 Prozent – dahingehend erklären, es würden eben die Uninformierten und Überforderten auf die Stimmabgabe verzichten. Diese optimistische These wird jedoch durch Befragungen nach Abstimmungen immer wieder Lügen gestraft. Da zeigt sich eben, dass jeweils viele ihr Votum auf reichlich schmaler Wissensbasis abgegeben haben.
Kritik an der direkten Demokratie ist in der Schweiz ein Tabu. Sie wird meist zurückgewiesen mit dem Argument, «das Volk» zeichne sich bei seinen Entscheiden regelmässig durch Augenmass und Vernünftigkeit aus. Das ist zwar in vielen Fällen tatsächlich so, doch es gibt leider auch eine populistische Verführbarkeit. Wie anders hätte das unselige Minarettverbot in die Verfassung Eingang finden können? Je polarisierter das Parteiengefüge, desto schwieriger die Pflege der auf Kompromiss und Konsens zielenden Sachpolitik in Parlament und Regierung, die ja als Bauteil des Schweizer Erfolgsmodells gilt.
Die direktdemokratischen Instrumente sind heute übernutzt und überhitzt. Würde es den Parteien nicht so leicht gemacht, Volksinitiativen und Referenden für ihre Eigenwerbung einzusetzen, könnten Parlament und Regierung in ihren Funktionen gestärkt werden. Wahlen erhielten mehr Gewicht, und zwar in ihrer politischen Bedeutung wie im quantitativen Verhältnis: Die Zahl der Urnengänge wäre kleiner und die (oft für eine Mehrheit zu schwierigen) Sachvorlagen würden nicht mehr so massiv überwiegen.
Die Hürden für Initiativen und Referenden müssten deutlich erhöht werden. Die Quoren von 100’00 bzw. 50'000 Unterschriften wurden bekanntlich trotz Beteiligung der Frauen, trotz Bevölkerungswachstums und trotz der enormen Erleichterung durch elektronische Kommunikation nie erhöht. Das hat zur oft beklagten Inflation der Volksbegehren geführt, und es spricht nicht für die Handlungsfähigkeit der Politik, dass darauf bis heute nicht reagiert wurde. Entsprechende Ideen werden meist mit Berufung auf die direkte Demokratie abgewehrt.
Damit es nicht zur Folklore verkommt, muss das Element der direkten Demokratie innerhalb der politischen Institutionen den richtigen Platz haben. Parlament und Regierung müssen auf der Höhe ihrer Aufgaben als Legislative und Exekutive tätig sein, ohne gewohnheitsmässig auf Nachbesserungen mittels Volksentscheid setzen zu können. Das korrigierende Eingreifen des Souveräns mit Initiative und Referendum muss die Ausnahme bleiben. Eine Art Gewaltenteilung ist auch hier vonnöten: Die politischen Parteien haben ihr genuines Betätigungsfeld in Legislative und Exekutive; vom Zugriff auf den Souverän – wie übrigens auch auf die Judikative – sollten sie mit geeigneten Mitteln abgehalten werden. Es ist eine für die Zukunft des Landes wichtige politische Gestaltungsaufgabe, diese Mittel zu finden und einzuführen.
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