Die Gilets jaunes protestieren nun das vierte Wochenende in Folge. Es ist eine Bewegung ohne Führung und klare Struktur, ohne politisches Programm. Mitte November begann es mit landesweiten Protesten gegen die geplante Erhöhung der Diesel- und Benzinsteuern um einige Cents pro Liter. Blockaden auf Autobahnen und Verkehrskreiseln legten vielerorts den Verkehr lahm. Sprach man damals von 300’000 Protestierenden im Land, so ist heute die Rede von einigen Zehntausend. Das bewegt sich im Verhältnis zur Bevölkerung im Promillebereich. Doch die Gilets jaunes drücken anscheinend eine verbreitete Stimmung aus. Ihre Schlachtrufe «Macron nous a oublié» und «Macron démission!» finden laut Umfragen in der Bevölkerung Zustimmung.
Auch wenn heute nur ein Promille der Französinnen und Franzosen auf den Strassen demonstriert, ist die von den Medien vervielfachte Wirkung gigantisch. Bilder und Berichte zeigen ein Land im Aufruhr. Die von Aktivisten mit den Jahreszahlen «1789 – 1968 – 2018» proklamierte neuerliche «Révolution» ist zwar eine Mischung aus Selbstüberschätzung und Wunschdenken, trifft aber doch den Charakter der Bewegung. Wie alle grossen gesellschaftlichen Aufwallungen rührt sie von einem starken Bewusstsein der Benachteiligung und Missachtung her.
Weite Teile der französischen Bevölkerung haben Grund, sich so zu fühlen. Ganze Regionen des Landes und viele Vorstädte der Metropolen sind seit Jahrzehnten im Niedergang. Bildungssystem, Gesundheitswesen und Öffentlicher Verkehr abseits der Zentren (und teilweise auch dort) sind vernachlässigt. Und das in einem Land, in dem der Staat einen enormen Stellenwert hat als Autorität und Versorger. In Frankreich hat die Steuerquote im Verhältnis zum Brutto-Inlandprodukt innerhalb der OECD-Länder den Spitzenrang. Es ist ein extrem teurer Staat, den sich die Franzosen leisten. Doch dessen Leistungen sind vergleichsweise dürftig. Der Eindruck der Protestierenden, sie müssten nur dauernd mehr abliefern, erhielten aber keinen anständigen Gegenwert – er ist offensichtlich begründet.
Was läuft falsch in Frankreich? In manchem haben sich die Menschen an überhöhte Ansprüche gewöhnt. Die 35-Stunden-Woche und die generell sehr frühen Pensionierungen sind das eine, strenger arbeitsrechtlicher Schutz gegen Entlassungen das andere. Diese sozialen Besitztümer werden von schlagkräftigen Interessengruppen verbissen gegen alle dringend nötigen Reformen verteidigt. In den letzten Jahrzehnten hat keine Regierung es vermocht, substantielle Veränderungen durchzusetzen. Doch ohne dieses Gefüge aus erworbenen Rechten und antagonistischen Frontstellungen in Bewegung zu bringen, wird das Land nicht in die Gänge kommen.
Was wird geschehen? Macron wird hier und dort etwas nachgeben müssen, um die Stimmung im Land zu besänftigen. Dann wird er vielleicht, was schon Hollande sein, er selber aber nie werden wollte: ein «normaler Präsident».
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