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Bach und Bier

Als Johann Sebastian Bach am 1. Juni 1723 ins Amt des Kantors an der Thomas-Schule in Leipzig eingesetzt wurde, begann die 27 Jahre lang andauernde Periode eines musikalischen Schaffens, wie es die Welt nie zuvor und nie mehr danach gesehen hat. In Leipzig entstand ein Grossteil der etwa 250 Bachschen Kantaten. Auch die grossen Passionen und Oratorien sowie die h-Moll Messe entstammen jener Zeit, genau wie die Instrumentalwerke Clavierübung, Das Musikalische Opfer und Die Kunst der Fuge.

 

Die sechs Kantaten des in Leipzig 1734/35 erstaufgeführten Weihnachtsoratoriums werden in den kommenden Wochen in Kirchen und Konzertsälen weltweit tausendfach erklingen. Hätte es noch eines Beweises bedurft für die überragende Qualität dieser Musik, so wäre er mit ihrer unbegrenzten Verschleissfestigkeit sicherlich erbracht: Bachs grosse Kompositionen können einem nicht zuviel werden.

 

Das hat man nicht immer so gesehen. Nach Bachs Tod 1750 erhielt seine Musik das damals abwertende Etikett „barock“ und verschwand aus der breiten Wahrnehmung. Erst Mendelssohns Aufführung der Matthäuspassion 1829 in Berlin leitete die bis heute ungebrochene Bach-Renaissance ein. Der Thomas-Kantor gilt seither als singuläres Phänomen. Ihn als „Genie“ zu ehren, ist angesichts der vielen, die das Prädikat verdienen, die falsche Kategorie – wie es auch zum Verständnis seiner Kunst nicht ausreicht, sie in die Barockmusik einzuordnen.

 

Seit Mendelssohn findet jede Musikergeneration eigene Zugänge zu Bach. Das gravitätische, gedankenschwere Zelebrieren seiner Oratorien und Kantaten, das bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschte, hatte einen anderen Bach vor Augen als die heute übliche „historisch informierte“ Deutung. Mit ihrem schlanken, geschmeidigen Klangideal und dem rhetorischen Gestus zeigt sie Bach in ganz anderem Licht.

 

Die Vorstellungen über Bachs eigene Aufführungen haben dank historischer Forschung an Kontur gewonnen. Seinen langjährigen Wirkungsort Leipzig darf man sich als Kulturstadt ersten Ranges vorstellen. Eine ausgezeichnete Universität, das weit ausstrahlende Verlagswesen, blühendes Gewerbe und die europaweiten Handelsbeziehungen legten die Basis für ein selbstbewusstes und kultiviertes Bürgertum, das Bachs überragendes Format zu honorieren wusste. Dafür wurde dieser dann aber gehörig in die Pflicht genommen: Der Thomaskantor war für die Musik an vier städtischen Kirchen zuständig; in zweien – St. Thomae und St. Nicolai – war er sogar selber jeden Sonntag und an allen Feiertagen mit Aufführungen beschäftigt, für die er meist neue oder neu bearbeitete Kompositionen anfertigte.

 

Für seine Kirchenmusik standen dem Kantor eine kleine Kompanie von angestellten „Stadtpfeifern“ und „Kunstgeigern“ sowie der Erste Chor der Thomasschule, an der er unterrichtete, zur Verfügung. Deren Zöglinge wurden aufgrund musikalischer und sängerischer Talente ausgewählt und streng geschult. Sie bildeten eine junge Elite, vergleichbar heutigen Studierenden an einer Musikhochschule. Der dichte Aufführungskalender liess jedoch neben dem Schulbetrieb, der ausser Chor- und Instrumentalschulung sowie Musiktheorie auch die üblichen allgemeinen Fächer umfasste, kaum Zeit für Proben. Es wurde wohl meistens vom Blatt gesungen und gespielt.

 

Das Weihnachtsoratorium vom Blatt singen und spielen? Genau das haben knapp dreihundert Jahre später ein paar Dutzend junge Leute beim berühmt gewordenen Leipziger WG-Konzert getan. Ein Handy-Video hat die Aufführung festgehalten. Seit bald sechs Jahren ist die 52 Minuten dauernde Aufzeichnung ein grosser Youtube-Hit. Entstanden ist er zufällig: Der 26-jährige Musikstudent Felix Pätzold will seinen Abschied von Leipzig mit einem WG-Konzert feiern, und weil es Dezember ist, fällt die Wahl auf das Weihnachtsoratorium, Kantaten eins und drei. Mitstudierende werden eingeladen, via Facebook kommen zusätzliche Kräfte. Ins Internet gerät das Konzert danach eher beiläufig (angeblich um das Video dem verreisten Pätzold zu übermitteln). In der WG hat man drei Zimmer leergeräumt. Zwei Barockpauken, Partituren und ein paar Kisten Bier sind da, und schliesslich steht junges Volk eng gedrängt in der Altbauwohnung. Pätzold dirigiert auf dem Esstisch stehend. Es kennen sich nicht mal alle, die da sind. Eine Probe gibt es nicht, viele singen oder spielen die beiden Kantaten zum ersten Mal.

 

Als der Dirigent sich im Party-Gelächter endlich Gehör verschaffen kann, geht es los in der wohlbekannten Weise – und hier doch ziemlich anders. Dem „Tam tadadadadam-tam“ der Pauken, den anschliessenden Fanfaren der Bach-Trompeten und dem mächtigen „Jauchzet, frohlocket“ des Chors fehlen der Nachhall des Kirchenraums und dessen feierliche Atmosphäre. Hier bleibt der Klang in der engen Wohnung gefangen; ozeanisch ausbreiten kann er sich nur in den Mitwirkenden selbst. Die anfangs noch gespannten Gesichter werden schon beim Eingangsstück lebhaft, und man kann als Betrachter mitverfolgen, wie die Instrumentalisten und Choristinnen in diese Musik, die vielen von ihnen neu ist, hineingezogen werden.

 

Bach fordert alles von ihnen. Nicht immer bleiben die Stimmen und Instrumente taktmässig ganz zusammen, was den Dirigenten zu Schwerarbeit zwingt. Wenn der Bassist und die Sopranistin sich durch schwierige Passagen ihrer Duett-Arie arbeiten, zählen sie einander mit den Fingern die Takte bis zu den Einsätzen vor – und brechen mitten im Stück in erleichtertes Lachen aus, als es geklappt hat. Mehrmals geht kurz das Licht aus. „Bierkette!“, ruft jemand hinten im Nebenraum, worauf leere Flaschen hinaus- und volle hereingereicht werden. Allmählich sind alle erhitzt, doch die Fenster müssen geschlossen bleiben; es fehlt schlicht der Platz, sie zu öffnen. Als nach dem letzten Choral der dritten Kantate „Seid froh dieweil“ nochmals der Eingangschor „Herrscher des Himmels“ mit bezwingendem Drive anschliesst und den Schlusspunkt setzt, bricht Jubel aus.

 

So spontan und locker ging es bei den Leipziger Thomas-Schülern im 18. Jahrhundert gewiss nicht zu. Sie waren rigorose Zucht gewohnt. Und es waren keine Frauen dabei. Doch trotz aller gesellschaftlichen und kulturellen Revolutionen der dazwischen liegenden Jahrhunderte dürfte das Leipziger WG-Konzert von 2012 eine gewisse Nähe zu Bachs Musizieren aufweisen. Die nach heutigen Massstäben unvorstellbare Kadenz der Aufführungen nämlich rückte eine Perfektion, wie wir sie im Konzertbetrieb gewohnt sind, ausser Reichweite. Selbst wenn Bach die damals besten Musiker und Sänger zur Verfügung standen, können die wöchentlich neuen Kantaten nicht anders denn in einem anspruchsvollen Rohzustand erklungen sein. Vielleicht um Nuancen besser, aber eben nicht völlig anders als im WG-Konzert.

 

Das Youtube-Video zeigt eindrücklich, dass Bachs Musik nicht nur in den Hochglanz-Aufführungen der Weltklasse-Solisten und Top-Ensembles funktioniert. Sie verträgt ohne weiteres ein paar Schrammen und ein bisschen Unsauberkeit, wie sie bei der Arbeit musikalischen Fussvolks nun mal nicht zu vermeiden sind.

 

Perfekte Aufführungen mit Starsolisten und professionellem Chor sind grossartig und unersetzlich, denn sie verdeutlichen den kaum auslotbaren Reichtum von Bachs Kompositionen. Das Happening in der Studenten-WG steht daneben wie eine Randnotiz. Sie verweist auf einen Überschuss an emotionalem und gedanklichem Gehalt, den keine Interpretation dieser Musik je vollständig abzubilden vermag. Das gewissermassen uneingelöste Plus der Aufführung ist immer vorhanden, aber es ist beim Leipziger Happening halt viel grösser und dadurch spürbarer als bei den Standards der internationalen Top-Klasse. Hierin liegt wohl der Grund, weshalb die WG-Aufführung nicht nur fasziniert, sondern berührt und einem das Gefühl gibt: Diese Musik spricht zu mir, sie meint mich.

 

Artikel zum Thema:

Musik des Himmels und der Erde, Journal 21, 18.12.2016

Vom Singen im Chor, Journal 21, 28.11.2016

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