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Das Phantom des Individuums

Soziologischer Spaziergang mit Abstecher zur KI

 

Die Feststellung einer allgemeinen Individualisierung gehört zu jeder Diagnose, die „unserer Gesellschaft“ – sprich: den Lebensumständen in der konsumgesättigten und mobilen westliche Moderne – den Puls fühlt. Kein populärsoziologischer Traktat kommt ohne sie aus. Die Endung „…isierung“ zeigt an, dass es weniger um Zustände als um Entwicklungen oder Abläufe geht: Wo Religion, Nation, Stamm, Clan, Grossfamile, Partei, Verein und wo Klasse, Herkunft, Gender war, da soll Einzelmensch werden. Obschon es die genannten Kollektive ja weiterhin gibt, stehen diese doch unter dem Vorbehalt des Einzelnen. Die Individualisierungstheorie will also sagen: Das souveräne Individuum entscheidet jederzeit frei darüber, ob und in welchem Grade es die ihm zugeschriebenen gesellschaftlichen Zuordnungen für sich als relevant betrachten will.

 

Ein solches Selbstbild dürfte zumindest denjenigen ganz gut passen, die in der Lage sind, sich mit Gesellschaftsdiagnosen zu beschäftigen. Sie sind es, die der selbstbestimmten Individualität den Status eines allgemeinen Leitbilds der Moderne zumessen. Und weil gesellschaftliche wie auch persönliche Befunde stets hinter diesem Ideal zurückbleiben, ist das genannte Leitbild auch ein Antrieb für therapeutische Interventionen aller Art. Wo das Leitbild des souveränen Individuums regiert, da herrscht allerorten Therapiebedarf.

 

Das normative Bild des selbstbestimmten Individuums lenkt nicht nur den therapeutischen Blick, sondern auf weite Strecken auch das wissenschaftliche Denken über Mensch und Gesellschaft. So avancierte das Konzept der Individualisierung zum leitenden soziologischen Narrativ. Mindestens in gewissen populären Vermittlungen sozialwissenschaftlicher Befunde gerät dabei der eng gesetzte Rahmen, in dem die Individualisierungstheorie gelten kann, aus dem Blick. Was wir als soziale Moderne bezeichnen, beschreibt nicht die ganze Gesellschaft. Es gibt keine soziologischen Diagnosen, die allgemein gelten.

 

Die Vorstellung einer aus freien Individualisten bestehenden Gesellschaft hat im 19. Jahrhundert zu einer von der Physik inspirierten Sicht geführt. Der Soziologie-Pionier Auguste Comte versuchte eine „Physique sociale“ zu etablieren und die Gesellschaftswissenschaft auf das Niveau der Naturwissenschaften zu bringen. Indem seine Sozialphysik Individuen wie Moleküle und die Gesellschaft wie das aus ihnen gebildete Gas sah, hoffte sie gesellschaftliche Gesetzmässigkeiten zu finden, die dann auch Prognosen erlaubt hätten. Die hochgesteckten Hoffnungen blieben selbstverständlich unerfüllt. Doch durch Big Data hat Comtes Ansatz nun quasi eine zweite Chance erhalten. Statt der groben Physik der „Sozialmoleküle“ kommt jetzt eine feinere zum Zug. Sie basiert statt auf eigenschaftslosen Partikeln auf den Daten individueller Eigenschaften und Verhaltensweisen und macht sich bereits daran, bestimmte Vorgänge vorauszusagen.

 

Ob Sozialphysik oder Big Data, die Vorstellung des Menschen als eines gesellschaftlichen Elementarteilchens oder Individuums haben beide Denkansätze gemein. Was diese Sichtweise nicht beachtet, ist der Umstand, dass die Einzelnen sich je in eine Vielzahl von Bezügen und Gruppen einordnen – durch Zuschreibung anderer oder aus eigenem Entscheid, auf Dauer oder situativ. Durch ständig wechselnde Aktualität und Stärke dieser Bindungen ist das Individuum permanent in einem fluiden Zustand.

 

Das Individuum ist kein physikalisches Objekt und keine statische Grösse, sondern ein Subjekt mit der Fähigkeit der Teilnahme und Teilgabe. Was „Individuum“ geheissen wird, ist entgegen dem Begriff gerade nicht unteilbar. Im Gegenteil, es zeichnet es sich dadurch aus, dass es sich situativ verändern und gegebenenfalls sogar aufteilen kann, sei es in wechselnde Rollen, sei es durch Anpassung an divergierende Kontexte, sei es mit wechselnden inneren Zuständen. Das Individuum hat die Fähigkeit, sich zu widersprechen und mit solchen Widersprüchen zurecht zu kommen.

 

Das gängige Bild der individuellen Person ist offensichtlich zu simpel: Es ist zu statisch, zu flach und blendet die Abhängigkeit der Person von Interaktionen aus. Die Vorstellung eines souveränen Individuums fällt zudem hinter grundlegende Einsichten zurück wie diejenige Freuds, dass wir „nicht Herr im eigenen Haus“ sind, und sie modelliert das Bild von Gesellschaft einseitig vom Einzelmenschen her, für den soziale Bezüge angeblich immer nachrangig sind.

Das so gesehene Individuum ist eine Fiktion. Wir benötigen sie,um im Alltag bestehen zu können. Es ist diese Fiktion, die uns erlaubt, an der Vorstellung festzuhalten, wir wüssten, wer wir sind.

 

Diese alltagstaugliche Gespaltenheit gilt es bewusst zu machen angesichts der hochgemuten Pläne und Visionen von KI-Forschern, die von der Substituierbarkeit des Menschen träumen oder – schlimmer – die Singularität (den Punkt, da Maschinen den Menschen hinter sich lassen) schon fest in die Zukunft eingeplant haben. Die KI-Propheten übersehen geflissentlich, dass wir gar nicht in der Lage sind, unser eigenes Wesen schlüssig und widerspruchsfrei zu verstehen. Nur schon mit dem einfachen Begriff des Individuums verwickeln wir uns in Paradoxien, die wir nicht lösen können. – Was für ein Glück!

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