Zum Film „Call Me by Your Name“
Das Attribut „heile Welt“ verweist auf eine Illusion, oft auf eine kalkulierte und entsprechend verlogene. Entsprechend gilt, was als heile Welt etikettiert wird, als moralisch dubios und ästhetisch minderwertig. Einzig der leichten Muse gesteht man die Lizenz zum Illusionären zu. Dafür nimmt man sie dann auch nicht ernst. Der Film „Call Me by Your Name“, von dem hier die Rede sein soll, ist einer der seltenen Fälle, die so etwas wie heile Welt auf ernstzunehmende Weise zeigen.
Das Coming-of-Age-Drama von Luca Guadagnino handelt 1983 in Norditalien, genauer: im Umland von Crema in der Poebene. Die amerikanisch-jüdische Professorenfamilie pflegt dort in einer Villa aus dem 17. Jahrhundert – sie allein macht den Film schon sehenswert! – den Sommer zu verbringen. Und zu diesem Brauch gehört auch, dass die Perlmans jeweils einen Doktoranden der Archäologie zu sich einladen, der dem Professor ein wenig assistiert und im übrigen Gast der Familie ist. Diesmal ist es der selbstbewusste und virile Oliver aus New England, Jude auch er. Zwischen ihm und Elio, dem 17-jährigen Sohn der Perlmans, entspinnt sich eine Liebesgeschichte. Es ist die erste ernsthafte Liebe dieses Jungen, und sie wird nur diesen einen Sommer dauern.
Damit greift der Film ein hundertfach traktiertes Sujet auf, variiert es aber durch den Umstand des homoerotischen Charakters. „Call Me by Your Name“ ist trotzdem weder vornehmlich ein Erste-Liebe-Film noch ein vor allem ein Schwulenfilm. Bei dem auf der Grundlage des gleichnamigen Romans von André Aciman beruhenden Werk handelt es sich um ein delikates Kammerspiel zwischen sorgfältig gezeichneten Personen. Alle tragenden Rollen, auch die der Nebenfiguren, sind so nuanciert entwickelt, dass man sich in sie hinein versetzen, das Geschehen also aus ihrer jeweiligen Perspektive wahrnehmen kann.
Es ist wohl diese Qualität des filmischen Erzählens, das einen vor der heilen Welt, die da evoziert wird, nicht in ironische Distanz ausweichen lässt. Es herrscht eine glaubhafte Harmonie in der alten Villa. Bei allen von den Stürmen der Emotionen hervorgerufenen Irritationen, Verstörungen und Verletzungen wird die Balance stets wieder gefunden. Man glaubt es diesen Menschen, die eben keine schematischen Figuren, sondern reale Personen sind, dass sie dies wollen und auch können: in diesem durchaus gefährdeten Zusammenleben Stabilität schaffen und Verlässlichkeit aufrechterhalten. Gebannt schaut man zu, wie die Handelnden sich öffnen, Verständnis aufbringen und Verständnis finden, wie sie warten können und einander Raum geben.
Bei alldem bleibt sichtbar, dass diese heile Welt in einem Hortus conclusus stattfindet und wohl auch auf ihn angewiesen ist: Es ist die Welt sehr vermögender Leute, polyglotter und hoch gebildeter Weltbürger, und sie spielt sich ab in einer geräumigen Villa voller Bücher und Musik, diskret bedient von Hausangestellten. Und rund herum ist eine Landschaft mit Gehöften, Dörfern und Städtchen von einer Schönheit, die fast weh tut. Die heile Welt dieses Films ist auch ein idyllisches Bild Italiens von 1983: unzerstörte Ortsbilder, Strassen fast ohne Verkehr, ein gemächlich sommerliches Leben, intakte Natur voller Schönheiten im Kleinen und Grossen, viele heitere Menschen. Der Terror der Brigate rosse ist weit weg, Politik kommt nicht vor. Ein einziges Mal ist bei den Perlmans ein italienisches Paar zu Besuch, das sich bei Tisch in pausen- und atemlosem Duett über die Politiker ereifert. Die Gastgeber lassen die Tiraden lächelnd über sich ergehen.
Elio und Oliver haben sich behutsam aufeinander zu und an den Punkt bewegt, da sie ihre Liebe bejahen und überschwänglich geniessen können. Elios Eltern haben es längst mitbekommen und ermöglichen den beiden eine Reise zu zweit. Wer darunter leidet, ist Mariza. Mit ihr hatte Elio kurz zuvor den ersten kläglichen Versuch mit Sex absolviert. Sie hat sich gleichwohl in ihn verliebt. Doch Elio lässt Mariza stehen. Als Olivers Sommeraufenthalt endet, bringt Elio ihn zum Zug und steht danach allein am Bahnhof. In seiner Verlorenheit ruft er seine Mama an und bittet sie, ihn abzuholen. Mariza weiss von Elios Kummer und bietet ihm ihre Freundschaft an. „Lebenslang?“ fragt Elio. Sie bejaht, und sie geben sich die Hand.
Wie eine ausklingende musikalische Coda nach dem vorangegangenen Gefühlsaufruhr mündet der Film in ein langes ruhiges Gespräch zwischen Vater und Sohn. Der Professor beglückwünscht Elio zu dem, was dieser erfahren hat. Liebe und grosse Gefühle seien das Beste des Lebens, auch wenn das Ende Schmerz sei. So redend, neigt der Vater sich nicht herunter zu seinem Sohn, er hebt ihn vielmehr zu sich herauf. Es ist ein Gespräch unter Erwachsenen, ein Wendepunkt in Elios Leben. „Call Me by Your Name“ ist nicht nur die stimmige und berührende Erzählung davon, dass Menschen so miteinander umgehen können; der Film macht dies darüber hinaus auch glaubhaft. Das ist seine grosse Qualität.