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Über die Modernität von Bekenntnissen

Seit dem 19. Jahrhundert sind die Schweizer reformierten Kirchen „bekenntnisfrei“, das heisst, es gibt keine verbindlichen Bekenntnistexte für Liturgie und Kirchenrecht. Damit sind die Schweizer Reformierten in der weltweiten Ökumene ein Unikum. Entstanden ist es als reformierte Reaktion auf den gesellschaftspolitischen Kulturkampf, der sich zwischen dem liberal geprägten jungen Bundesstaat und dem sich gegen die Moderne sperrenden Katholizismus entsponnen hatte. 1871 hatte sich der Papst vom Ersten Vatikanischen Konzil für in Lehrfragen unfehlbar erklären lassen, und die katholischen Bischöfe in der Schweiz wollten bei Konflikten zwischen staatlichem und kirchlichem Recht dem Letzteren prinzipiell den Vorrang geben.

 

Trotz vereinzelt neuem Aufflackern des alten Streits ist die ebenso liberale wie reformierte Frontstellung gegen einen katholischen Antimodernismus Geschichte. So gilt denn die reformierte Abstinenz in Sachen Bekenntnis einigen Kirchenleuten heute als Makel, der behoben werden sollte. Halbwegs ist das verständlich, da es einer Kirche ohne verbindlich formulierte Glaubensgrundlage ja doch an Profil und Erkennbarkeit fehlt. Verschiedenes wurde versucht, um das Fehlende zu ersetzen: Rückkehr zu einer der aus der Alten Kirche der Antike stammenden Bekenntnisformeln oder Kreation eines für heutiges Verstehen zugänglicheren Textes. Das Ergebnis der Bemühungen: spannende, sogar fruchtbare Diskussionen, aber keine Einigung. Typisch reformiert halt.

 

Kirchliche Bekenntnisdebatten unserer Tage ähneln den von Managementlehren empfohlenen Leitbildprozessen. Man hält sich an die Routinen eines methodischen Vorgehens, bezieht alle und alles ein und sucht den Konsens. Im Vergleich verliefen die zwischen dem 2. und 5. Jahrhundert geführten Dispute, aus denen die altkirchlichen Bekenntnistexte hervorgingen, geradezu wild und chaotisch. Die Kontrahenten lieferten sich epische Kämpfe, griffen zu Tricks und Machtspielen, ja sie schreckten selbst vor Gewalt nicht zurück. Für die damaligen Kirchenführer ging es nicht um Profil oder Erkennbarkeit, sondern schlicht ums Ganze: Wahrheit oder Irrlehre, Himmel oder Hölle, Gott oder Teufel. Manche der auf Konzilien verhandelten Differenzen erscheinen heute zwar als Peanuts, waren jedoch für die Streitenden essentiell. Ein einziges Wort im altkirchlichen Grossen Glaubensbekenntnis – das berühmte „filioque“, wonach der Heilige Geist aus Gott dem Vater und dem Sohn hervorgehe – trennt bis heute Ost- und Westkirchen. In der Konfrontation unterschiedlicher Glaubensauffassungen konnte das Bekenntnis kein moderater Konsenstext sein.

 

„Symbolon“ hiess die Bekenntnisformel, wörtlich: das Zusammengeworfene, also das Konzentrat der Glaubensinhalte, ihre Essenz. In jedem Satz ging es ums Ganze, was da „geworfen“ war, musste exakt ins Zentrum treffen. Trotz ihrer oft unzimperlichen Interventionen waren die Konzilsväter der festen Überzeugung, dass ihr Feilschen und Kämpfen direkt von Gottes Willen geleitet und das Ergebnis daher absolut deckungsgleich mit der göttlichen Wahrheit sei. Anders als mit dieser geistigen Haltung lässt sich ein Bekenntnistext nicht festlegen und für universell gültig erklären. In Übereinstimmung mit dieser Voraussetzung war die Geltung des Bekenntnisses absolut: Es diente als Massstab, um Glauben von Unglauben, beziehungsweise rechten von falschem Glauben zu scheiden. Später in der Geschichte der Kirche waren Urteile über den Glauben oft solche über Leben und Tod.

 

Heute zeitigen Abweichungen von kirchlichen Bekenntnissen zumindest keine letalen Folgen mehr, aber sie müssten, wenn sie denn ernst genommen würden, zu Konsequenzen führen: als Hinderungsgründe für die Zulassung zu kirchlichen Ämtern etwa. Solche Folgen der Wiedereinführung eines verbindlichen Bekenntnisses bleiben bei den Reformierten interessanterweise undiskutiert. Befürworter scheinen sich unter einem Bekenntnis eher eine elastische, weiche Leitlinie als eine strenge Norm vorzustellen. Sympathisch – aber soll man eine solches Leitbild noch „Bekenntnis“ nennen?

 

Das lateinische „Confessio“ konnotiert das Bekennen anders als das griechische „Symbolon“: als Offenlegung des Verborgenen, oft genug einer Schuld. Augustin hat mit seinen Confessiones nicht nur ein literarisches Genre geschaffen, sondern recht eigentlich einen Typus der Intellektualität. Bis in die Gegenwart haftet jeder publiken Äusserung über sich selbst unvermeidlich der Charakter des Bekennens an. Wer sich als Redender oder Schreibender exponiert, der bekennt. Dem ist nicht zu entgehen, selbst wenn der Schreibende sich zu entziehen sucht, sei es hinter einem Pseudonym oder mittels Fiktionalisierung des Textes. Es hilft ihm nicht. Man wird nach der bekennerischen Dimension seiner Äusserungen suchen und diese trotz anderslautender Selbstdeklaration gegen ihn als Deutung durchsetzen.

 

Nun ist „Confessio“ durch die Latinisierung der Kirche in Spätantike und Mittelalter aber auch zum Begriff für das in der Liturgie gesungene oder gesprochene Glaubensbekenntnis geworden. Mir scheint, das kirchliche Bekennen habe dadurch das Element des Festlegens und Ausschliessens, das mit den altkirchlichen Bekenntnisformeln verbunden ist, amalgamiert mit dem „augustinischen“ Bekennen als dem Offenlegen eines Verborgenen. In dieser Verbindung steckt eine Urform moderner Intellektualität: Das Auf-den-Begriff-Bringen als denkerische Grundbewegung der altkirchlichen Symbole gehört ebenso dazu wie das Hineinschauen in ein Inneres von Haltungen und Motiven, von Defiziten und Überschiessendem.

 

Wie jeder textförmige Inhalt steht die Confessio fidei einer Vielzahl von Lesarten offen. Eine kleine Auslegeordnung von Haltungen gegenüber dem formulierten kirchlichen Bekenntnis möge helfen, verschiedene Zugänge und Bedeutungsschichten auseinanderzuhalten.

  1. Die historische Annäherung will verstehen, was der Bekenntnistext ursprünglich meint, von welchen Denkvoraussetzungen er ausgeht und welche Funktionen er zu den jeweiligen Zeiten seiner Entstehung und seines Gebrauchs erfüllte.
  2. Die hermeneutische Interpretation sucht vom Standpunkt der Gegenwart aus das Gespräch mit dem Text und will ihn kritisch-wertend verstehen.
  3. In der liturgischen Vergegenwärtigung wird der Bekenntnistext als ehrwürdiges Traditionsgut evoziert.
  4. Als Bestandteil kirchlicher Kultur ist der Text (und seine Behandlung etwa in der Malerei oder in der Kirchenmusik) eine Äusserungsform des Glaubens und eine Manifestation religiöser Ästhetik.
  5. Als Identifikationssymbol einer Kirche bildet der Bekenntnistext den kulturellen Hintergrund von Zugehörigkeit ohne zwingendes inhaltliches Einverständnis im Einzelnen.
  6. Als vollständige Formel umreisst der Bekenntnistext inhaltlich das Ideal eines anzustrebenden, aber vielleicht nicht zu erreichenden vollkommenen Glaubens.
  7. In fundamentalistischer Lesart wird der Bekenntnistext zum wortwörtlich zu befolgenden Gesetz des Glaubens, dem zu unterwerfen man sich aus freien Stücken entscheidet (und so – ohne es zu merken – das moderne Konzept des entscheidungsfreien Individuums bestätigt).

Diese Bedeutungsschichten können sich auf verschiedenste Weise überlagern und repräsentieren durch ihre zahlreichen Kombinationen schätzungsweise so ziemlich alle Spielarten von Religiösität. Sie sind Weisen des Verhaltens gegenüber dem Phänomen Religion und der von ihm mitgeprägten Kultur. Der so eröffnete Spielraum für die eigene Positionierung und Ausrichtung kann als Modellfall gesehen werden für die moderne Situation des Individuums in der Vielfalt geistiger und soziokultureller Umwelten.

 

Das Bekenntnis als Symbolon ist auf das Kollektiv der Kirchenmitglieder ausgerichtet, die damit ihre Zugehörigkeit gemeinschaftlich bekräftigen. Geht dies als Verhaltensmuster überhaupt noch? Unter den Bedingungen der modernen Individualisierung ist das religiöse Bekennen eine Zumutung geworden. Doch ausgerechnet die moderne Pluralität führt dazu, den Wunsch nach Erkennbarkeit und die Notwendigkeit von Abgrenzungen enorm zu stärken. In Form von Unternehmensphilosophien und Committments, Policies und Brands sind die Wiedergänger einstiger Bekenntnisse für heutige Geschmäcker denn auch ganz unverdächtig. Sie funktionieren im Grunde ähnlich wie die altkirchlichen Glaubensformeln. Dass sie weniger hart erkämpft sind, macht sie allenfalls kurzlebiger – was im schnellen Markt kein Nachteil ist.

 

Das Bekenntnis als Confessio richtet sich, wie gesehen, in etwas anderer Weise ans Individuum: Dieses soll sein Inneres zeigen und sich so zur Gemeinschaft der Glaubenden bekennen. Das Sich-Offenbaren, obwohl als religiöse Forderung zumindest im kirchlichen Mainstream weitgehend ausser Kurs, passt perfekt zur modernen Hochschätzung des Individuums und zum Transparenzideal der Mediengesellschaft. Diese glaubt einen Anspruch zu haben auf überprüfbare Authentizität der sozialen Akteure. Und sie fordert bei Fehltritten öffentlicher Figuren deren Schuldbekenntnisse. Da aber das Bekennen nicht anders als in Sprachform möglich ist und weil man mit Wörtern bekanntlich lügen kann, führt die Forderung nach Transparenz zu immer neuen Bekenntnissen, mit denen die vorangegangenen zu beglaubigen versucht werden. Ausgerechnet das am dringendsten Geforderte, nämlich persönliche Wahrhaftigkeit, hat stets nur den Status einer Behauptung. Und die kann man glauben oder nicht. Sosehr die Moderne es anstrebt, sie kann sich nie vom Bereich des Glaubens lösen.

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