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Von Twombly zu Vermeer

In meinem Twitter-Steckbrief heisst es unter anderem: „Liebt Mingus und Bach, Vermeer und Twombly…“ Wie ich mich erinnere, tippte ich dies beim Einrichten des Accounts damals im Mai 2009 ohne lange Überlegung rein. Viel Platz ist da bei Twitter nicht, allzu privat soll die Selbstdeklaration nicht sein, und doch will man sich einigermassen kenntlich machen. Nach der langen Zeit bin ich mit den Begriffspaaren, mit denen ich meine Interessen und Vorlieben charakterisierte, noch immer zufrieden. Sie beschreiben grosse Spannweiten und markieren zugleich Kohärenz – wobei das erste allerdings leichter ablesbar ist als das zweite. Was verbindet Mingus mit Bach und Twombly mit Vermeer?

 

Twombly_Pompidou

In der Twomby-Ausstellung des Centre Pompidou, Paris

 

Twombly und Vermeer habe ich in den letzten Tagen in Paris gesehen: Cy Twombly in der grossen Werkschau des Centre Pompidou, Jan Vermeer in der Ausstellung „Vermeer et les maîtres de la peinture de genre“ im Louvre. Ein Zusammentreffen, das ich mir nicht entgehen lassen konnte!

 

Mit den Besuchen im Centre Pompidou und im Louvre testete ich – mehr oder weniger absichtlich – die Markierung meines ästhetischen Kosmos, die ich mit den beiden Namen vorgenommen hatte. Die Aisthesis (Wahrnehmung) der beiden so unterschiedlichen Werke fühlte sich zunächst ganz ähnlich an: Die Bilder fahren ein in den Bauch und breiten ihre Wirkung wie ein Wärmegefühl im Körper aus. Mit etwas Verzögerung setzt das Denken ein: Was genau sehe ich, was bedeutet es, worin liegt seine Schönheit? Das Denken zoomt rein und greift Einzelheiten heraus, zoomt raus und schliesst weite Dimensionen und Zusammenhänge mit ein. Tagelang geht das so weiter.

 

Mit der Zeit verblasst die Emotion des unmittelbaren Gegenübers. Sie bleibt als Erinnerung präsent ohne physisch-psychische Wirkung. Stattdessen übt sich das Denken im Entdecken und Konstruieren von Zusammenhängen. Mein Kopf macht aus den beiden Ausstellungsbesuchen rückblickend eine Einheit. Twombly und Vermeer, das ist nun kein blosser Einfall mehr zur Beschreibung meiner Präferenzen, sondern das habe ich an zwei aufeinander folgenden Tagen als grosse Kunsterfahrung erlebt.

 

Die beiden Künstler sind durch drei Jahrhunderte getrennt. Die Zeitspanne ist riesig, wenn man auf die in ihr geschehenen Umwälzungen schaut. Und sie ist kurz, wenn man an das Dutzend Generationen denkt, die in ihr gelebt haben. Kulturgeschichtlich kann man sich Vermeer durchaus nahe fühlen: Zu seinen Lebzeiten begann das Zeitalter der Aufklärung und damit einer Moderne, der wir uns – trotz aller „Post“-Deklarationen – noch immer zugehörig und verpflichtet fühlen. In Anbetracht solcher Nähe sind die Unterschiede zwischen Twomblys und Vermeers Kunst geradezu krass. Viele finden sie schockierend – bis vor wenigen Jahrzehnten zählten auch Kunstexperten zu ihnen. (Mir ist ein solches Zurückschrecken übrigens lieber als das coole, unbeteiligte Gutheissen sämtlicher Hervorbringungen, die öffentlich einen Kunststatus in Anspruch nehmen.)

 

Cy Twombly hat sich dauernd mit der abendländischen Kunsttradition seit der griechisch-römischen Antike – und besonders mit dieser – auseinandergesetzt. Im Unterschied zur Verehrungshaltung, wie sie von der italienischen Renaissance bis zum deutschen Idealismus gepflegt wurde, scheint Twombly die Antike eher eine als Art Museum der künstlerischen Formen und Topoi zu sehen. Was immer Kunst ausdrücken will und gestalten kann, findet sich hier schon einmal gesagt und in gültige Formen gebracht. Nun sind aber klassische Kriterien des Schönen wie Natürlichkeit, Vollkommenheit und Erhabenheit im 20. und 21. Jahrhundert nicht unverändert anwendbar. Die Wahrheitsforderung der Kunst steht dem im Weg. Unsere Zeit hat aufgrund ihrer geschichtlichen Erfahrung keinen ungebrochenen Bezug zu solchen Massstäben.

 

Cy Twombly; Nini's Painting; 1971 (Roma)

Cy Twombly; Nini’s Painting; 1971 (Roma): 260.5 x 299.7 cm; Öl, Wandfarbe auf Ölbasis, Wachskreide und Bleistift auf Leinwand

 

Das Schöne muss also anders gesucht werden. Twombly geht dabei einen radikalen Weg. Er führt die künstlerische Aktion zurück auf das Gestische, die Skizze, das elementare Zeichen, die Spur. Seine Themen sind archaisch, das heisst auf Anfänge zurück verweisend. Passend dazu haben die Bilder einen „archäologischen“ Charakter, indem sie die Schichten ihres meist komplexen Entstehungsprozesses sichtbar machen. Palimpseste, die abgeschabten und wieder verwendeten Pergamente des Mittelalters, haben für Twombly Modellcharakter, da sie oft die wertvollsten Inhalte verborgen und gerade so über die Zeiten hinweg geborgen haben. Was man als Erstes sieht auf Twomblys Bildern oder bei seinen Plastiken, ist oft nicht das Wichtigste. Seine Artefakte wollen langsam und behutsam entschlüsselt werden – mit Bauchgefühlen sowie rein- und rauszoomenden Gedanken.

 

Ist das nun bei Jan Vermeer nicht alles viel einfacher? Liegen Schönheit und Gehalt seiner Gemälde nicht offen da? Der Louvre hat gut daran getan, die zwölf versammelten Vermeers in einen kunstgeschichtlichen Kontext zu stellen. Sie sind eingeordnet in ein Ensemble hochkarätiger Genrebilder des holländischen Goldenen Zeitalters. Dadurch wird ohne museumsdidaktische Gängelung die Zugehörigkeit von Vermeers Œuvre zu dieser Kunstgattung gezeigt. Sujets, Bildkompositionen und Ikonographie sind diejenigen der in Holland um 1660 gängigen Genremalerei. Die gesamte Gattung bewegt sich auf höchstem Niveau. Diese Maler können alles, sind stilsicher und beweisen einen exquisiten Geschmack.

 

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Jan Vermeer: Briefschreiberin in Gelb, 1665–1670, Öl auf Leinwand, 45 x 39.9 cm, National Gallery of Art, Washington D. C.

 

Was Vermeer zu Vermeer macht, ist sein Plus gegenüber diesen Malerkollegen. Er malt zwar auch Genrebilder. Aber er benützt Themen und Ausdrucksmittel der Genremalerei für eigenständige künstlerische Aussagen. Entscheidend ist bei ihm der warme Blick auf die dargestellten Menschen. Seine Bilder sind Statements eines grossen Humanisten. Vermeer ergründet malend die Condition humaine. Seine Figuren sind freie Individuen, die ganz bei sich sind, die zueinander – auch über Standesgrenzen hinweg – in Beziehung stehen oder die sinnend ihren Fragen nachgehen. Das war etwas Besonderes zu jener Zeit. Es atmete den Geist der sich anbahnenden Aufklärung.

 

Vermeer und Twombly sind durch drei Jahrhunderte und Welten des Stils voneinander getrennt. In ihrer künstlerischen Haltung der Wahrheitssuche und Menschlichkeit sind sie einander jedoch nahe.

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