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Zum ersten Mal Bergman sehen

Der in Teilen autobiographische Roman „Sepia“ von Helga Schütz handelt von der DDR der Sechzigerjahre. Zentraler Schauplatz ist die Film- und Schauspielschule von Potsdam-Babelsberg bei Berlin. In einer Episode dieses starken Romans ist sein Erzählkosmos auf drei Buchseiten exemplarisch verdichtet. Folgendes wird erzählt.

 

Um vom internationalen Kino nicht völlig abgeschnitten zu sein, verschaffen sich die Babelsberger Studenten an den Parteiautoritäten vorbei Zugang zu Ansichtskopien neuer Filme, die der DDR von westlichen Verleihern angeboten werden. Und das funktioniert so: Diese Westfilme werden von der Zensur geprüft und selbstverständlich in aller Regel abgelehnt, sodass die Kopien stets umgehend mit einem montäglichen Transport zurückspediert werden. Hier haben sich die Filmstudenten eingeklinkt. Sie haben in diesen Rückweg der Filmkopien mit stiller Duldung ihrer Schulleitung einen heimlichen Umweg über die Babelsberger Filmschule eingebaut, sodass sie die abgelehnten Westfilme zu sehen bekommen.

 

An einem dieser Montage im Jahr 1963 gelangt ein Film zur Aufführung, den die Studierenden gespannt erwartet haben: „Das Schweigen“ von Ingmar Bergman. Was sie zu sehen bekommen, überwältigt sie. Alle sind aufgewühlt. Sie haben in eine Bildwelt hineingeschaut, die zu neuartig ist, als dass sie die Eindrücke verarbeiten könnten. Bergmans Erzählweise ist voller Rätsel. Er zeigt eine Sicht der menschlichen Existenz, die im sozialistischen Kunstkanon nicht vorkommt. In dem Film brechen Fragen auf, mit denen die Studierenden nie konfrontiert worden sind.

 

Spontan wollen die Studenten „Das Schweigen“ anschliessend an die Vorführung ein zweites Mal sehen. Denn allen ist klar: Wir haben noch gar nichts verstanden, wir müssen diesen Film erst zu sehen lernen. Er benutzt ein unbekanntes visuelles Alphabet, eine fremde Bildsprache. Bergmans Kameramann Sven Nykvist bildet nicht die Realität ab, sondern schafft mit seinen rauen expressiven Schwarzweissbildern eine eigene Wirklichkeit, der man erst auf die Spur kommen muss.

 

Unversehens gerät der an der Filmschule in didaktischer Dosierung tolerierte studentische Eigensinn ausser Kontrolle. Die Studierenden sind erfasst von einem oppositionellen Impuls: Der Film muss nochmals laufen, das ist für sie nicht bloss interessant und wünschenswert, sondern es geht einfach nicht ohne diese zweite Visionierung. Als die Filmrollen ins wartende Auto geladen werden, umringen sie den Wagen und riskieren einen Protest: Der Abtransport soll zwei Stunden warten, damit sie „Das Schweigen“ nochmals anschauen können. Doch es hilft nichts, der Fahrer hat strenge Anweisungen und lässt nicht mit sich reden. Und dass ein echter Aufstand nicht möglich ist, wissen die jungen Leute gut genug.

 

Bergmans Kino mit seinen existentialistischen, vom Echo Kierkegaards widerhallenden Ausweglosigkeiten, seiner bohrenden Haltung, seiner Atmosphäre von Angst und Sehnsucht hat die sterile Welt der ideologisch korrekten und filmhandwerklich einwandfreien Schulung in 95 Filmminuten einfach weggefegt. Die Studenten sehen sich als ungeschützte, von keiner Doktrin mehr gehaltene Einzelne diesem unerbittlichen Blick ausgesetzt. Und sie wissen sogleich: Das ist grosse Filmkunst.

 

Helga Schütz: Sepia. Roman, Aufbau Verlag, Berlin 2012

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