Immer wieder taucht der Slogan „Kein Mensch ist illegal“ auf. Er richtet sich gegen die Beschränkung der Zuwanderung, insbesondere gegen die Unterscheidung zulässiger von unzulässigen Asylgesuchen. Die weitherzige Devise entspringt wohl zumeist dem konkreten Einsatz zugunsten bestimmter Menschen, die schon hier leben und denen aufgrund der asylrechtlichen Bestimmungen die Ausschaffung droht. Der Härte und bürokratischen Kälte solcher Entscheide setzen die auf der Seite der Betroffenen Stehenden dann ihre ganz andere Sichtweise entgegen: „Kein Mensch ist illegal.“
Das erscheint nicht nur verständlich, sondern human geboten. Angesichts von Hunderttausenden aber, die auf der Flucht sind und in stark wachsender Zahl in mittel- und nordeuropäischen Ländern Asyl suchen, ist die einzig auf das Individuum gerichtete Sicht nicht mehr angemessen. Wie so oft auf dem Feld des Politischen geraten hier die gesinnungsethische und die verantwortungsethische Haltung in Konflikt. Die erste fragt einzig nach richtigen Zielen des Handelns, die zweite bezieht immer auch dessen Wirkungen in die ethische Abwägung ein. Für Politik taugt nur das verantwortungsethische Konzept, denn sie spielt sich niemals nur in der Sphäre des Wollens und Wünschens ab, sondern wesentlich in der Welt der Tatsachen. „Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stossen sich die Sachen“ (Schiller, Wallensteins Tod). Inmitten der Kollisionen von Fakten, Interessen und Emotionen muss Politik sich verantwortlich verhalten.
Slogans dürfen und sollen verkürzen, zuspitzen und einseitig sein. Doch sie sollten weder falsche Aussagen machen noch solche dem Gegenpart implizit unterschieben. Genau dies geschieht hier: Dem Gesetzgeber und den die Gesetze handhabenden Behörden wird vorgeworfen, sie stempelten Menschen als illegal ab. Das ist falsch. Wer ein Asylgesuch stellt, tut auch dann nichts Illegales, wenn dieses als unbegründet abgelehnt wird. Und wer untertaucht, um kein (aussichtsloses) Gesuch stellen zu müssen oder einer Ausschaffung zu entgehen, der verstösst wohl gegen Gesetze und hat rechtliche Konsequenzen zu gewärtigen, ist aber deshalb nicht ein „illegaler Mensch“. Das wäre einer, der keinerlei Anspruch hat auf rechtskonforme Behandlung, und so etwas gibt es in Rechtsstaaten nicht.
Wäre das „Kein Mensch ist illegal“ tatsächlich als politisches Statement gemeint, so würde es auf die die Abschaffung jeglicher rechtlichen Prüfung von Asylgründen hinauslaufen, eventuell sogar auf die ersatzlose Aufhebung des Asyl- und Migrationsrechts. Die Zuwanderung wäre dann einfach für alle frei. Dies allerdings ist, soweit ich weiss, bei keinem einzigen Staat der Welt der Fall. Staaten müssen die Niederlassung auf ihren Territorien regeln. Zweckmässigerweise unterscheiden sie dabei zwischen Einwanderern und Flüchtlingen und errichten für die beiden Kategorien unterschiedliche Regelwerke.
Bei der Einwanderung gilt es als plausibel, dass Staaten sie entsprechend ihren eigenen Interessen steuern; das kann auch heissen, dass sie (auch dies entsprechend ihren eigenen Interessen) für eine Gruppe von Staaten Personenfreizügigkeit vereinbaren.
Bei der Regelung des Asyls hingegen sollen humanitäre Kriterien den Ausschlag geben. Allerdings wird es nicht ausbleiben können, dass bei sehr grossem Zustrom die Bedingungen für eine Aufnahme restriktiver gehandhabt werden. In diesem Fall müssen die internationalen Anstrengungen verstärkt werden, Flüchtlinge besser auf möglichst viele Aufnahmeländer zu verteilen und die Not in den Herkunftsländern zu beseitigen oder wenigstens zu mildern.
Es stimmt also: „Kein Mensch ist illegal“. Doch die Konsequenz daraus ist nicht ein Verzicht auf rechtlich-politische Regelung der Einwanderung, sondern vielmehr die Notwendigkeit, Einwanderung und Asyl verantwortlich zu gestalten. Und da ist noch einiges zu tun.