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Taumelnde Geisteswissenschaft

Hans Ulrich Gumbrecht antwortet beim Interview mit dem Schweizer Monat zur Frage, ob er sich als Intellektuellen sehe:

 

„Ich komme ja aus dieser deutschen akademischen Tradition, die strikte zwischen Wissenschafter und Intellektuellem unterscheidet. Für den beamteten Fachwissenschafter ist der Intellektuelle einer, der unverantwortlich und unvorbereitet über alle möglichen Dinge spricht. Und der seriöse Akademiker, auch der Literaturwissenschafter, muss auf Distanz zu diesem unseriösen Zeitgenossen gehen.

 

Mittlerweile habe ich meine Haltung um 180 Grad geändert. Wir Geisteswissenschafter müssen uns nichts vormachen, wir sind keine Wissenschafter – entweder Geist oder Wissenschaft, so einfach ist das. Aber gerade darum sollen die Geisteswissenschafter Intellektuelle sein, glaube ich. Sie reduzieren nicht die Komplexität der Welt durch Antworten und Lösungen, sondern machen die Welt, unser Bild von ihr, komplexer und komplizierter. Das ist ihre wichtigste Aufgabe.“

 

Auf den entgeisterten Einwurf des Interviewers „Wie bitte? Meinen Sie das nun zynisch oder ernst?“ entgegnet Gumbrecht: „Todernst und enthusiastisch!“

 

Dieses letztere Sarkasmus-Signal sollte man wohl nicht überhören. Dennoch ist bei allem Entzücken über Gumbrechts Provokationslust an einigen Stellen Einspruch fällig.

 

Mit seiner Umschreibung der Aufgabe von Geisteswissenschaftern, bzw. Intellektuellen landet der philosophierende Stanford-Romanist einen schönen Treffer, der allerdings einen unschönen Fehler hat: Sie beschreibt nicht nur die Geisteswissenschaften (die angeblich keine sind), sondern Wissenschaft insgesamt. Gumbrechts indirekte Aussage zu den nach seiner Auffassung richtigen Wissenschaften, sie würden die Komplexität der Welt mit Antworten und Lösungen reduzieren, ist unhaltbar. Jede Wissenschaft tut beides: Sie reduziert Komplexität mittels Abstraktion, Modellierung, Systematisierung, Typenbildung – und sie erhöht gegenüber dem Alltagswissen die Komplexität von Beobachtungen, Erfahrungen, Theorien, Deutungen. Das Kriterium der Komplexität eignet sich also nicht zur Abqualifizierung der angeblich unwissenschaftlichen Geisteswissenschaft.

 

Gumbrecht geniesst es, die Leser mit einem aufrührerischen Statement vor den Kopf zu stossen: „entweder Geist oder Wissenschaft, so einfach ist das“. Natürlich kann er an lange Debatten anknüpfen, die den Wissenschaftscharakter dieser Disziplinen problematisiert haben. Seine simple Gegenüberstellung ist allerdings kühn.

 

Nun ist Kühnheit nichts Schlechtes, und wer sie gegen sich selber wendet, kann gerade als Wissenschafter durchaus Respekt beanspruchen. Wenig überzeugend ist jedoch Gumbrechts Volte, weil nicht Geisteswissenschafter, sei er eben Intellektueller. Dass er ein Intellektueller ist, beweist er zwar seit langem mit seiner publizistischen Tätigkeit. Aber er ist dies nicht als Folge seiner Selbsteinschätzung als Nicht-Wissenschafter.

 

Die Gegenüberstellung von beidem mag für Gumbrecht eine biografisch-episodische Plausibilität haben: Er beschreibt ja, was er vor seiner Übersiedlung in die USA in Deutschland diesbezüglich erlebt hat. Doch selbst wenn es die Regel wäre, dass man entweder das eine oder das andere, aber nicht beides sein kann, liesse sich daraus weder ableiten, dass Geisteswissenschaft keine Wissenschaft ist noch dass Beschäftigung mit „Geist“ einzig die Sache der Intellektuellen wäre. Es gibt einfach zu viele brillante Geisteswissenschafter, die auch als Intellektuelle eine öffentliche Rolle spielen. 

 

Ich würde gerne auch Gumbrecht zu ihnen zählen. Wenn er es mir denn erlaubte.

 

Das Interview mit Hans Ulrich Gumbrecht erschien im Schweizer Monat, Ausgabe 1020 vom Oktober 2014.

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