Wie es um Religionen und Kirchen steht in der modernen Welt, wird breit erforscht und debattiert auf sozialwissenschaftlichem Hintergrund. Selbstverständlich ist das von hohem theoretischem und praktischem Interesse. Die erkannten Entwicklungen geben Einblick in die heutige Gesellschaft wie auch in die aktuelle Lage der Kirchen und Religionen. Soziologische Untersuchungen befriedigen auf kirchlicher Seite zudem einen Orientierungsbedarf, indem sie gewissermassen das Terrain ausleuchten, auf dem religiöses Verhalten sich gesellschaftlich formiert.
Erstaunlicherweise sind in diesen Modernisierungsdiskursen religiöse Inhalte meistens als feste Bezugsgrössen gesetzt. Was sich ändert, so die Hypothese, ist der Grad der Zustimmung zu ihnen, also gewissermassen die Intensität von Glaubensüberzeugungen. Stets kommt dann heraus, das religiöse Engagement sei im Querschnitt variabler und insgesamt schwächer geworden. Die sozialwissenschaftliche Methodik der Quantifizierung bestimmt ein Stück weit die Auswahl der zu untersuchenden Phänomene. Statistiken über Kirchenbesuch, privatreligiöses Verhalten und Zustimmungsgrad zu traditionellen Glaubenssätzen spielen eine entsprechend grosse Rolle.
Bei Untersuchungen zu den christlichen Kirchen gehen die empirischen Fragestellungen von einer Art Komponentenmodell aus. Religiosität wäre demnach ein Topf, dessen Inhalt unvermischt oder in Mixturen aus Bestandteilen besteht wie traditionelle Frömmigkeit, distanzierte Kirchenzugehörigkeit, multireligiöse Experimentierhaltung, esoterische Neigung, agnostische Zurückhaltung, areligiöse Aversion und expliziter Atheismus. Facts and figures hierzu werden seit einigen Jahrzehnten zuverlässig geliefert. Doch die Komponenten selber werden fast wie chemische Elemente gesehen: geschichtslose, unwandelbare Fixteile, die keiner verstehenden Deutung bedürfen.
Sozialwissenschaftliche Untersuchungen über Religionen und Kirchen bilden kulturelle Veränderungen ab und liefern hierzu aufschlussreiche Daten. Allerdings bleiben die Resultate relativ grob und gehen, was Interpretierbarkeit und Erkenntniswert angeht, oft kaum über das hinaus, was gute Beobachtung und Intuition ebenfalls hergeben. Dennoch sei der Nutzen der religionssoziologischen Expertisen ausdrücklich nicht in Zweifel gezogen.
Aber: Die kirchliche Auseinandersetzung mit der Modernisierung darf sich nicht auf sozialwissenschaftliche Aspekte beschränken. Es geht in dieser Diskussion immer auch um das Selbstverständnis, den inhaltlichen Kern des Christentums. Die Theologie ist als Gesprächpartnerin genauso nötig wie die Sozialwissenschaften; und zwar darf sie sich nicht darauf beschränken, die Forschungen der letzteren zu begleiten und deren Ergebnisse im Nachgang zu deuten.
Um die Schlüsselrolle der Theologie für die kirchliche Modernisierungsdiskussion zu verstehen, sollten wir wenigstens kurz ins vorletzte Jahrhundert zurück schauen. Was wir hierzulande als Kirchen kennen, das sind relativ junge Organisationsformen. Sie sind im 19. Jahrhundert im Zuge der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft als «soziale Teilsysteme» gebildet und eigenständig institutionalisiert worden. Nur unter dieser Vorbedingung konnten sich das gleichwertige Nebeneinander von Konfessionen und die Religionsfreiheit allmählich durchsetzen. Gleichzeitig entwickelte sich – zumindest im protestantischen Raum – eine erstmals von kirchlichen Autoritäten weitgehend unabhängige akademische Theologie. Sie erlebte im 19. Jahrhundert eine wissenschaftliche Hochblüte und findet bis heute Anschluss an wesentliche Diskurse der Zeit.
Die Kirchen jedoch spielten in jener historischen Phase der «Verwandlung der Welt» (so der Titel von Jürgen Osterhammels monumentaler Geschichte des 19. Jahrhunderts) eher defensive Rollen, indem sie als Horte des Rückzugs zu den Modernisierungsphänomenen auf Distanz blieben. Angesichts der Ausmasse kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Umwälzungen ist die Sehnsucht nach Stabilität und Kontinuität begreiflich. Der konservative Grundzug, welcher Frömmigkeit und Strukturen der Grosskirchen seither kennzeichnet, ist denn auch ohne Wertung zu konstatieren.
Der kirchliche Rückzug hatte jedoch einen Preis: Die geistige Auseinandersetzung mit der Moderne, die in der Theologie des 19. Jahrhunderts einsetzte, hat die Kirchen nie richtig erreicht. Sie blieb ein akademisches Geschäft, und wann immer dieses zu den Kirchen überschwappte, setzte es erbitterte Kämpfe ab. Diese Konstellation lief – stark verallgemeinernd gesagt – darauf hinaus, dass die Grosskirchen sich einer Neuinterpretation ihrer Kerngehalte und ihrer Mission in der Welt verweigerten. Diese Abwehrhaltung wurde zur Regel und ist bis heute nicht überwunden. Ein nicht nur propagandistisch vorgetäuschter, sondern offener und effektiver Dialog mit der Moderne blieb bis heute die Ausnahme.
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