Sie kommt nicht zur Ruhe, die Debatte um den Anstand. Instruktiv etwa die lebhafte Diskussion im Blog von Philippe Wampfler. Hier treten viele der gängigen Argumentationen auf: die Skepsis angesichts oberflächlicher, zur Heuchelei verleitender Werte; das Insistieren auf Regeln eines zivilen Umgangs; die Kritik an der Absolutsetzung eigener Normen in einer multikulturellen Gesellschaft. Es sind denn auch Alltagserfahrungen aus unterschiedlichen soziokulturellen Perspektiven, welche den Streit um Sitte und Anstand immer von neuem erhitzen.
In der Achtundsechziger Bewegung wurden die sog. Sekundärtugenden (Anstand, Fleiss, Gehorsam, Sauberkeit, Zuverlässigkeit etc.) als lediglich funktionsorientierte Normen ohne eigenen Wert gesehen und entsprechend verächtlich gemacht. So wurde moniert, mit solchen Sekundärtugenden könne man auch ein KZ betreiben (Oskar Lafontaine gegen Helmut Schmidt im Streit um den NATO-Doppelbeschluss). Es waren dann aber nicht zuletzt gesellschaftliche Erfahrungen mit derartiger Tugendverachtung, die in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten ein neues Interesse der Praktischen Philosophie an Alltagsnormen – eben Tugenden – geweckt haben.
Mir persönlich kam innerhalb der doch so fesselnden Philosophie die Ethik immer als eher langweilige Disziplin vor. Seit je haftet all den Tugendlehren abwechselnd ein Übermass von Rechtschaffenheit, ein dröges Nützlichkeitsdenken oder ein lebensfremdes Prinzipienregime an. Ethik klingt nach Pflichtübungen für’s Grosshirn. Sie ist kein Terrain für intellektuelle Abenteuer. Aufgemerkt habe ich hingegen, als ich auf Versuche stiess, Ästhetik und Ethik in einer Denkbewegung zu erfassen. Neu war die Kombination nicht, aber man musste weit zurückschauen, um sie als Element lebendigen Denkens zu sehen. Der klassisch-idealistische Zusammenhang zwischen dem Schönen und dem Guten war in der Moderne so tief problematisiert, dass er in der Philosophie keine Rolle mehr spielte. Seitdem sich jedoch zumindest in der Fachsprache ein erweiterter und komplexerer Begriff des Ästhetischen eingebürgert hat, wird dieser Zusammenhang wieder interessant. Als Theorie der Wahrnehmung ist Ästhetik in neuer Weise anschlussfähig an Reflexionen der gesellschaftlichen Praxis, ganz besonders auch ans ethische Nachdenken über Normen des Handelns und Verhaltens.
Der Literaturwissenschafter und Kulturphilosoph George Steiner hat die ästhetische Kategorie der Cortesia in die Diskussion eingeführt. Er meinte damit einen Umgang mit Kunstwerken, der nicht von Metatheorien (Steiner hat vor allem die Poststrukturalisten und die Methode der Dekonstruktion in Visier) verstellt ist, sondern dem Werk als einer personhaften Manifestation begegnet, die man wie einen respektierten Gast zu sich hereinbittet. Cortesia ist für Steiner die Haltung der ästhetischen Aufmerksamkeit und Begegnungsfähigkeit.
Ohne die Beziehung zum Ethischen explizit zu thematisieren, hat Steiner mit dem Cortesia-Konzept einen Zugang zur Ebene des Zusammendenkens von Ästhetik und Ethik gebahnt. Es kommt in beidem darauf an, sich begegnungsfähig zu machen. Das heisst selbstverständlich nicht, es solle jeder Alltagskontakt auf das Qualitätsniveau personaler Begegnung gehievt werden. Es geht um die Bereitschaft zur Cortesia, die ästhetische Sensibilität, die sich zwanglos auch in einer Form von Anstand äussert.
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