Liebe Kolleginnen und Kollegen
Dies ist das zweite Mal, dass ich gross verabschiedet werde. 1980 sagte ich der Kirchgemeinde Adieu, in der ich acht Jahre Pfarrer war. Jetzt schaue ich auf einunddreissig Jahre Medienarbeit zurück, sechzehn als Fernsehbeauftragter, fünfzehn als Geschäftsführer der Reformierten Medien. Mein Arbeitsleben gehörte der Kirche. Drei verschiedene Jobs in vier Jahrzehnten. Angesichts heutiger Taktraten beruflicher Mobilität könnte man dies ein Schippern in ruhigen Gewässern nennen. Brüche blieben mir tatsächlich erspart; nicht im Leben, wohl aber im Beruf. Es war eine gute Zeit. Ich bin dankbar dafür.
I.
Theologie habe ich studiert, da die ursprüngliche Kombination von Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte mir nicht die Art von Stoff und Widerstand bot, um Funken zu schlagen für das Feuer in meinem Leben. Rückblickend bin ich jedoch froh um den Umweg. Er führte mich dazu, Theologie immer in Zusammenhänge zu stellen. Auf die Art habe ich denn auch studiert. Zu den Ausflügen in meine anfänglichen Disziplinen kam bald das Interesse an Soziologie. Meine Akzessarbeit (heute wäre das etwa der Bachelor) bestand aus einem interdisziplinären Forschungsprojekt zwischen Praktischer Theologie und empirischer Soziologie. Es waren die Achtundsechzigerjahre. In Studium und Berufseinstieg rumorten Leidenschaften.
Alles war zu verändern: die Uni, die Theologie, der Pfarrberuf, die Kirche, die Welt und natürlich ich selbst. Heute sehe ich darin nicht nur eine Zeiterscheinung und Lebensphase, sondern auch Ausdruck und Konsequenz eines Bildungsprozesses.
Wir jungen Wilden brannten für Kritik und Alternativen. Rückblickend bewundere ich die Lehrer an der Uni und die Praktikumsleiter in der Kirche, die mich und meinesgleichen nicht nur ertragen, sondern gefördert und begleitet haben. Es ist auch ihr Verdienst, dass wir die Lücke nicht verkleisterten, die zwischen Welt und Reich Gottes klafft. So ist die Suche nach Veränderung nicht in Utopismus ausgeartet.
II.
Theologe bin ich im Pfarramt geworden. Ich sah, dass Menschen theologische Fragen haben – nicht schwadronierend religiöse, sondern zugespitzt theologische, und dies nicht hobbymässig, sondern existenziell. Frau Appenzeller, eine alleinstehende ehemalige Textilarbeiterin, legte mir wöchentlich ihr Notizheft vor, in welchem sie in reinlicher Schrift und fehlerfreiem Deutsch sich fortlaufend Rechenschaft gab über ihr Leben unter Gottes strengem Blick. Ich sass an ihrem Küchentisch bei Nescafé und Petit beurres und las ihre neuen Reflexionen. Das war ebensosehr Seminar wie Seelsorge. Frau Appenzeller hatte ein Leben lang alles richtig machen wollen, korrekt bis ins Letzte gegenüber Menschen und Gott. Jetzt wurde sie zum ersten Mal aufsässig. Sie pflegte mir so lange zuzusetzen, bis sie ihre Fragen für beantwortet befand. Bei aller seelischen Not hatte sie auch ein heimliches Vergnügen dabei, an dem ich zunehmend partizipierte. Frau Appenzeller, die nach der obligatorischen Schulpflicht keine weitere Bildung genossen hatte, begann den frisch von der Uni gekommenen Pfarrer an ihrer Tür mit verschwörerischem Lächeln zu begrüssen, bevor sie ihm jeweils neue, säuberlich in ihr Heft geschriebene Knacknüsse servierte.
Mein Gemeindeteil lag im östlichen Neubaugebiet der Stadt St. Gallen, und ich war der erste Pfarrer dort. Schon vor meinem Stellenantritt hatten die reformierte und die katholische Gemeinde beschlossen, hier gemeinsam ein Kirchenzentrum zu schaffen. Ich bekam die einmalige Chance, dieses zusammen mit zwei katholischen Kollegen aufzubauen. Wir konnten alles neu erfinden. Die Zeit Mitte der Siebzigerjahre war dafür günstig. Ökumene atmete den Duft eines Kirchenfrühlings. So folgten wir dem Grundsatz, alles gemeinsam zu machen, was nicht zwingend konfessionell laufen musste, und wir stellten fest, dass die Bewohner unseres Halden-Viertels dies beinahe als Selbstverständlichkeit betrachteten. Wir Pfarrer besuchten sie zu Beginn alle, wobei wir das Klinkenputzen strassenweise aufteilten. Bei unseren Vertreterbesuchen luden wir die Kirchenmitglieder persönlich ein zum Mitwirken und Mitentscheiden.
In der ökumenischen Aufbauarbeit habe ich gelernt, dass ich ein Reformierter bin. Die katholischen Kollegen und auch manche katholischen Gemeindemitglieder sagten mir, was sie als das Besondere empfanden an meiner Art, Pfarrer zu sein. Ihnen fiel der intellektuelle Umgang mit Texten auf, ein Hang zum Grundsätzlichen und halt auch ein hoher Anspruch an Gottesdienstbesucherinnen und Teilnehmer bei Bildungsprogrammen.
III.
Im Herbst 1980 übernahm ich die Stelle des Fernsehbeauftragten der Deutschschweizer reformierten Kirchen. Man hatte jemanden gesucht, der neben der Mitarbeit beim Schweizer Fernsehen auch eine kirchliche Medienbildung aufbauen würde. Auch dieser zweite Job auf meinem beruflichen Weg war demnach ein Aufbauprojekt mit vielen Freiheiten. Die Auftraggeber sahen die Medien als eine etwas unheimliche Macht, der die Kirche im Vertrauen auf die Formbarkeit von Menschen und Gesellschaft mit Bildungsarbeit entgegentreten wollte.
Der Präsident der kirchlichen Organisation, die mich anstellte, war ein bernischer Grandseigneur, der in der Folge unerschütterlich zu mir hielt, auch wenn die erzkonservative «Aktion Kirche wohin» mich als linken Wühler diffamierte. Von ihm hatte ich Carte blanche für die Umsetzung des vage definierten Auftrags. Davon machte ich regen Gebrauch: Ich mischte mich in die Medienpolitik ein, fand Verbündete unter Journalisten, Kulturschaffenden und Politikern, und ich initiierte eine Grundsatzerklärung, die als «Medienthesen 1983» vom Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund, der katholischen Bischofskonferenz und den Christkatholiken gutgeheissen und mit grossem Zeremoniell der Öffentlichkeit übergeben wurde. Zudem betätigte ich mich publizistisch als Medienkritiker und zu medienpolitischen Themen, veranstaltete Kurse und Bildungswochen zu Kommunikations- und Medienfragen und fing an, den damaligen Evangelischen Mediendienst umzubauen.
Die grossen Spielräume meines Fernsehbeauftragten-Jobs liessen mir auch in weiteren Richtungen freien Auslauf. 1985 feierte man den 300. Geburtstag Johann Sebastian Bachs. Armin Brunner als Musikchef des Schweizer Fernsehens steuerte mehrere aufsehenerregende Kreationen zum grossen Jubiläum bei, unter anderem einen Film von Werner Düggelin zur Johannespassion. Dafür benötigte er eine Aufführung des Oratoriums. Wenn man die schon hat, so Armin Brunners Überlegung, sollte man sie auch so nutzen, wie von Bach gedacht: als Teil eines Gottesdienstes. Wir kamen ins Gespräch und Armin Brunner, Erwin Koller als Religionschef des Fernsehens und ich erfanden das Genre der Musikalischen Meditation. Mit dem Regisseur Adrian Marthaler wurden wir zur Viererbande, die im Verlauf von fünfzehn Jahren einundzwanzig dieser Sendungen realisierte. Werke der geistlichen Musik von Georg Friedrich Händel bis Arvo Pärt, aufwendig inszeniert, wurden beim Wort genommen von einer Persönlichkeit, welche den Inhalt der Musik auf heutige Erfahrungen bezog. Reibung war gewollt, Widerspruch willkommen. Beschaulichkeit hingegen war die Sache dieser Sendungen nicht. Der greise Wolfgang Hildesheimer, der aus Verzweiflung über die fortschreitende Zerstörung der Welt zu schreiben aufgehört hatte, rief Mozarts Requiem entgegen: «Herr, gib ihnen die ewige Ruhe nicht!» Es war das Jahr von Schweizerhalle und Tschernobyl. Die Sendung geriet zum kulturellen Ereignis und zum politischen Fanal. Einen tiefgründigeren Kommentar zum Katastrophenjahr hat es nicht gegeben.
Die Musikalischen Meditationen haben mich gelehrt, dass die in Monumenten wie Bachs Oratorien und Mozarts Messen gefassten biblischen Inhalte nicht der Kirche gehören und dass nicht allein Theologen für sie zuständig sind. Reflektiert in grosser Musik sprengen sie ohnehin jede pastorale Einhegung und werden zu Manifestationen der Menschheit. Sie dann zurückzuholen in eine quasi-kirchliche Inszenierung, nämlich in ein Setting von Quelle und Deutung, Text und Kontext, Botschaft und Betrachtung, Herausforderung und Antwort, das setzte die Werke reiner Schönheit der befleckten Welterfahrung aus, also genau dem, wovon die üblichen Konzertrituale sie abschirmen. Der Widerspruch, der Zweifel und die Klage der Zeitzeugen stellten die Wahrheit der musikalischen Botschaften auf die Probe, und die Musik hat nicht nur diese Konfrontation ausgehalten, sondern in neuer Weise zu sprechen begonnen. In Sternstunden der Sendereihe ereignete sich Verkündigung neuer Art in Form eines Kunsterlebnisses abseits der Konventionen.
IV.
Bei der 1996 vollzogenen Fusion zwischen dem Evangelischen Mediendienst und dem Reformierten Forum hiess die Devise: Die Reformierten Medien müssen ein Unternehmen werden. Ich wurde dessen Geschäftsführer und befand ich mich somit zum dritten Mal in meiner beruflichen Laufbahn in einer Pioniersituation. Unterstützt durch Beratung von aussen und mit gutem Rückhalt im Vorstand baute ich mit meinem unternehmungslustigen Team die Reformierten Medien um. Parallel dazu durchlief ich eine Ausbildung zum NPO-Manager. Mit der Neuorganisation veränderte sich meine Aufgabe tatsächlich zu der eines Managers. Die Verantwortung für das Unternehmen war mir persönlich zugewiesen.
Rückblickend gesehen war dies seit dem Eintritt ins Pfarramt die tiefste Zäsur in meinem Berufsleben. Ich befand mich nicht mehr in der Rolle des primus inter pares, sondern des Chefs. Die reformierte Kirche will ja keine Chefs; sie lässt es contre cœur zu, dass mal jemand in eine Führungsrolle hineinwächst. Dann aber erwartet sie von dieser Person eine internalisierte Demutshaltung und ein rituelles Beteuern, es ginge ihr immer um’s Dienen. Dieser Sound liegt mir nicht, und so kam es halt, dass die Reformierten Medien und ihr Chef manchmal als nicht ganz kirchenkonform beargwöhnt wurden.
V.
Genug damit! Ich will ja die Kirche loben, und dies durchaus nicht als versöhnlicher Abschied eines Glücklichen, der es hinter sich hat. Ohne meine Kritik an der Auftraggeberin zu verleugnen, kann ich zurückschauend festhalten: Ich habe gern für meine Kirche gearbeitet. Es braucht sie, und sie erfüllt ihre Mission gut – natürlich nicht immer und in allem. Vielleicht ist sie deshalb oft empfindlich. Sie bekommt ja auch selten Anerkennung und leidet unter diesem Mangel. Mir scheint allerdings, sie möchte manchmal auf eine Weise gelobt werden, die gar nicht ihre wirklichen Qualitäten trifft. Verdient sind die Blumen für eine Kirche, die sich trotz Schwächen und Fehlern treu bleibt und sich trotz Widerständen und Unsicherheiten verändert. Tatsächlich erstarrt sie ja nicht, und sie zieht sich nicht aus der Gegenwart zurück. Sie fällt auch nicht herein auf simple Erfolgsrezepte der Anbiederung, rennt nicht esoterischen oder anderen Megatrends hinterher, sondern sie bleibt bei dem, wofür sie da ist.
Die Kirche hat eine einfache und anspruchsvolle Botschaft auszurichten. Das Einfache sagt die Bibel in drei Wörtern: «Gott ist Liebe», und das Anspruchsvolle besteht darin, diese Wahrheit in der realen Welt zur Wirkung zu bringen. Die Qualitäten der Kirche haben mit diesem Zusammenspiel von Einfachem und Kompliziertem zu tun, oder anders gesagt: mit der Art, wie sie mit ihrer Kernbotschaft umzugehen gelernt hat. Sie vergisst nicht, dass das Entscheidende einfach ist, und sie macht es sich nicht zu leicht mit dem Anspruch, der sich aus der einfachen Wahrheit ergibt. Daraus entspringt der Geist der Freiheit. Dies lobe ich als das Beste an der Kirche: dass sie ein Ort der Freiheit ist und sich stets dabei behaften lässt, es zu sein.
Ich wäre kein rechter Reformierter, käme nicht nach soviel Emphase und Bejahung doch noch ein kritischer Nachsatz. Er knüpft an bei der soeben gemachten Bemerkung, die Kirche neige dazu, das falsche Lob zu suchen. Was meine ich damit? Kirchen verhalten sich in ihrem Bemühen um öffentliche Wahrnehmung wie irgendwelche Organisationen. Sie wollen ihre Aktivitäten gespiegelt und ihre Mitteilungen verbreitet sehen. Daran ist nichts falsch, aber die Erfolgskontrolle der öffentlichen Resonanz wird für die Kirche zur Falle, wenn sie in’s Erbsenzählen ausartet. Mit solchem Verhalten schrumpft die Kirche zu dem, was sie als Organisation auf die Waage des Nachrichtenwerts bringt. Die Frage, wieviel das im Einzelfall wiegt, soll man durchaus stellen, aber die Antwort ist nicht alles und nicht das Wichtigste.
Das Wichtigste nämlich ist dies: Die Kirche organisiert den Glauben, soweit er sich organisieren lässt. Sie hat also ausgerechnet ihre Hauptsache nicht in der Hand. So etwas geht natürlich jeder Organisation gegen den Strich, auch der Kirche. Aber sie ist diejenige unter den Organisationen, die nicht nur mit diesem Paradox lebt, sondern von ihm. Das «Haben als hätte man nicht» ist nicht nur der Prüfstein persönlichen Glaubens, sondern auch der Kirche. An ihm erweist sich ihre Qualität, Organisation der Freiheit zu sein.
Die Kirche ist immer in Gefahr, der Regression zu verfallen, also ihrem ureigenen Paradox entfliehen und eine ganz gewöhnliche Organisation sein zu wollen. Diese Regression bezeichne ich als die Verkirchlichung der Kirche. In dieser distanzlosen Haltung gegenüber ihren regressiven Wünschen meint sie guten Glaubens, ganz echt, ganz Kirche zu sein. Doch mit der Verkirchlichung verfällt sie der Selbstbezogenheit. Sie verliert, ohne es zu merken, das Interesse an der Welt und den Bezug zur einfachen Botschaft von Gott, der als Liebe verstanden werden will. Sie redet an den Menschen vorbei in einem Kirchensprech, das mit standardisierten Floskeln die immer gleichen saft- und kraftlosen Phrasen erzeugt. Widersteht sie aber der Versuchung zur Regression, so kann sie zur Heimat erwachsener, mündiger Menschen werden, denen die Anforderungen der Freiheit nicht lästig fallen und die willens sind, der einfachen Botschaft in der komplexen Wirklichkeit der modernen Welt nachzuspüren.
VI.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es bedeutet mir viel, dass Ihr zu meinem Abschied hierher gekommen seid. Ich hatte das unerhörte Privileg, in meiner Berufstätigkeit drei begeisternde und bereichernde Pionieraufgaben zu bekommen. Die erste davon ist lange her. Ich habe trotzdem von meiner Pfarrerzeit erzählt, weil sie im Rückblick gesehen mit den folgenden Etappen meines Berufswegs ein Ganzes bildet. Mit euch war ich bei den Reformierten Medien in meinem zweiten und dritten Job verbunden, sei es eng und regelmässig, sei es punktuell bei einzelnen Gelegenheiten. Ihr seid es persönlich, und ihr seid es stellvertretend für viele weitere, die heute nicht hier sind, die das Netz bilden, das ein Berufsleben wie das meinige möglich macht. So habt Ihr alle teil an dem, worauf ich heute zurückblicke. Ich danke für alles!
Rede anlässlich des Abschieds am 25. Januar 2012 in Zürich
———-
Bei der Verabschiedung hielt der Weggefährte Armin Brunner, einstiger Redaktionsleiter Musik und Ballett beim Schweizer Fernsehen, eine Ansprache unter dem Titel „Der Grenzgänger“. Sie ist auf Armin Brunners Website nachzulesen.
Kommentar schreiben